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Das Vergessen

Fast hundert Jahre alt ist eine der merkwürdigsten Erkenntnisse der Lernforschung, die trotz ihres ehrwürdigen Alters erstaunlich wenig beachtet wird: Die Vergessenskurve. Haben wir uns endlich etwas mühsam eingeprägt und so lange wiederholt bis wir es wirklich können, dann ist dieser Inhalt leider noch nicht endgültig gespeichert. Ganz im Gegenteil: Überlassen wir ihn nun seinem Schicksal und prüfen ihn nach ca. einer halben Stunde, wird im Durchschnitt etwa die Hälfte wieder verschwunden sein: Jeder neue, frisch eingeprägte Inhalt versickert mit der beachtlichen Halbwertszeit von etwa 30 Minuten.

Die schon von Ebbinghaus beschriebene Vergessenskurve wird dann glücklicherweise bald etwas flacher, doch bleibt im Durchschnitt tatsächlich nicht mehr als etwa ein Fünftel im Gedächtnis. Da wir leider nicht wissen, welches Fünftel des gesamten Stoffes es ist, bleibt nur ein Ausweg, diesen beachtlichen Gedächtnisverlust durch geeignete Strategien wettzumachen und sich endgültig damit abzufinden, daß ein erstmals und neu gelernter Inhalt - so gut wir ihn auch zunächst beherrschen - nach einiger Zeit unweigerlich zum größten Teil verschollen sein wird.

Dieses "Verdunstungsbestreben" frisch gelernter Inhalte war wohl schon vor der wissenschaftlichen Beschreibung aus Beobachtungen alltäglicher Lernsituationen bekannt. Und so hat man eine Reihe von Strategien entwickelt, die ein Versickern neu gelernter Inhalte verhindern sollten. Die naheliegendste, und tatsächlich auch in erschreckendem Ausmaß verbreitete: Wir lernen eben nicht nur so lange, bis wir einen neuen Inhalt "gerade eben" beherrschen. sondern büffeln darüberhinaus weiter. Wir wiederholen ihn 5,10, 20mal öfter a!s eigentlich nötig und hoffen, daß durch dieses "Überlernen" der Gedächtnisverlust vermindert wird.

Auch hier genügt ein Blick in die alte Literatur des 19. Jahrhunderts, um zu sehen, daß diese so naheliegende Strategie völlig nutzlos ist. Schon Ebbinghaus konnte zeigen, daß eine Versuchsgruppe, die einen Inhalt nur so lange lernen mußte, bis sie ihn gerade beherrschte und eine andere Personengruppe, die im Anschluß daran noch eine große Zahl von weiteren Wiederholungen vornahm, am nächsten Tag fast gleichviel (oder besser gesagt wenig) gemerkt hatten. Mit massierten Wiederholungen im unmittelbaren Anschluß an die Lernphase können wir die Vergessenskurve nicht überlisten. Im Gegenteil: Viel besser ist es, nur so lange zu lernen, bis wir einen neuen Inhalt gerade eben beherrschen. Dann überlassen wir ihn am besten eine Zeit lang seinem Schicksal.

Wie läßt sich aber der beachtliche Vergessensverlust eines neu gelernten Inhaltes verhindern? Hier hilft nur eine Strategie, die zwar lange bekannt ist aber selten befolgt wird:

Repetitio est mater studiorum !

Ohne Ungeduld überlassen wir den neu gelernten Inhalt zunächst seinem Schicksal und nehmen bewußt in Kauf, daß ein Teil davon verloren geht. Nach einer geeigneten Zeit führen wir aber eine erste Wiederholung durch und holen den gesamten Stoff wieder auf das Niveau der 100%-igen Beherrschung - um ihn sogleich wieder beiseite zu legen. Denn nun kommt uns eine angenehme Gesetzmäßigkeit entgegen. Zwar werden abermals einige Teilinhalte des eben Wiederholten verlorengehen. Doch der Abfall der Vergessenskurve ist nun nicht mehr so steil wie nach dem ersten Lernen. Die Halbwertszeit ist wesentlich länger geworden und wir können einen viel längeren Zeitraum verstreichen lassen, ehe wir wieder mit einer weiteren Wiederholung die verloren gegangenen Inhalte einfangen. Und so können wir in immer längeren Zeitabschnitten ganz kurze Wiederholungsphasen einblenden und den auf jede andere Weise unvermeidbaren Gedächtnisschwund verhindern.

Das Lernen im Alter und das Vergessen

Früher ging man in der Hirnforschung davon aus, dass das Gehirn nach der Pubertät nur noch abbaut und nicht mehr wächst, bzw. dass das, was durch Alter oder Krankheit an grauer Hirnsubstanz verschwindet, unwiderruflich verloren ist. Heute geht man davon aus, dass Lernen auch noch im Alter möglich ist bzw. dass man durch geeignete kognitive Übungen in der Lage ist, den Abbau zu verlangsamen. Auch das Gehirn eines Erwachsenen ist nicht ab irgendeinem Zeitpunkt unveränderlich, sondern bleibt formbar. Auch wenn man aus verschiedensten Gründen das Gehirn nicht wirklich mit einem Muskel vergleichen kann, der trainiert werden muss, wenn er nicht verkümmern soll, so besteht doch eine Analogie, das es bis ins hohe Alter belastbar bleibt, wenn man es konsequent belastet. Daraus ergibt sich, dass Menschen lebenslang lernen sollten, wobei das auch für den 60jährigen und für den 80jährigen gilt.
Wichtige Erkenntnisse und Tipps zum Lernen für ältere Menschen finden sich auf der Website Lerntipps für SeniorInnen (http://senioren.lerntipp.a/t).

Das 5-10-20 Programm

Genau genommen sind die optimalen Zeitintervalle von Art und Inhalt des neu Gelernten abhängig. Doch als grobe und leicht zu merkende Faustregel können wir sagen: Im Anschluß an einen Lernblock sollte die erste Pause 5 Minuten betragen, die zweite 10 und die dritte 20 Minuten. Mit diesem Schema können wir eine ganz erhebliche Verbesserung der Behaltensleistung erzielen und mit geringstem Aufwand ein optimales Behalten erzielen.

Freilich werden wir nicht für jeden beliebigen Merkstoff dieses Programm einsetzen, was einen gewissen Planungsaufwand erfordert. Wir legen es vielmehr als Notbremse für besonders widerspenstige Inhalte bereit und setzen es vielleicht alle paar Tage einmal ein. Außer der kritischen Kerninformation, die wir endlich ins Gedächtnis stopfen wollen, müssen wir uns für die Zwischenzeiten auch Kontrastarbeiten bereithalten, die sich in 5,10, 20 Minuten durchführen lassen. Also am besten Wiederholungen von weit zurückliegenden Inhalten aus möglichst entfernten Stoffbereichen, oder noch besser, nicht lernbetonte Arbeiten (Geschirrwaschen, Aufräumen). Der gesamte Ablauf des 5-10-20-Programms nimmt genau eine Stunde in Anspruch und garantiert für eine kleine Lernportion eine optimale Einprägungswirkung.

Generell gilt für alles Einprägen, daß man die Lernzeit über einen längeren Zeitraum aufteilt (Arbeitszeit und Zeitplanung). Einen Monat hindurch jeden Tag 10 Minuten lernen (= 300 Minuten) bringt unvergleichlich mehr als einmal im Monat 5 Stunden (= 300 Minuten) büffeln.

Das Vergessen ist - wie schon oben gesagt - ein normaler Vorgang. Es hängt eng mit der Funktionsweise unseres Gehirns zusammen. Unter einer langfristigen Perspektive betrachtet spricht man dann oft von Gedächtnisverlust. Es gibt viele verschiedene Ursachen dafür:

Siehe auch Wie funktioniert Gedächtnistraining?


Übrigens: auf Lettisch schaut die Vergessenskurve dank Gatis Mednis so aus ;-)

(Quelle: http://ieva05.lanet.lv/~sd70029/IV_semestris/VSP/ATA4.gif)


©opyright Werner Stangl, Linz 1997.
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