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Lernen und Gedächtnis *)

Ein Lernstoff kann nicht schlagartig in einem einzigen Schritt in unser Gedächtnis eingespeichert werden. Er kommt vielmehr zunächst über ein sensorisches Register in einen Kurzzeitspeicher, in dem er kurz eine Weile bereitgehalten wird, ehe entschieden ist, ob sie wieder spurlos verklingen soll, oder wert ist, in dauerhafter Form konserviert zu werden. Grafisch läßt sich das stark vereinfacht so darstellen:

Übrigens: auf Lettisch schaut dieses Gedächtnismodell dank Gatis Mednis so aus ;-)

(Quelle: http://ieva05.lanet.lv/~sd70029/IV_semestris/VSP/ATA1.gif)

Ein wesentlich detaillierteres Speichermodell findet sich in Brandl (1997). Siehe dazu auch den "Überblick Gedächtnismodelle".

Dieses Vorzimmer unseres Gedächtnisses ist so konstruiert, daß der neue Inhalt ziemlich unverändert mit allen wichtigen und unwichtigen Details wie ein Foto erhalten bleibt. Diesen Luxus kann sich unser Gehirn allerdings nur recht kurze Zeit (ca. eine Minute) bzw. für eine beschränkte Informationsmenge (ca. 7 Sinneinheiten) leisten. Schnell muß entschieden werden, ob das eben in unser Bewußtsein Getretene einer dauerhaften Speicherung wert ist oder nicht.

Die Dauerspeicherung nämlich erfordert eine erhebliche Umformung. Die Information wird nicht mit all ihren vielfältigen Details gespeichert, sondern nur die wesentlichen Inhalte werden in das Langzeitgedächtnis überführt. Und diese Umformung des Gedächtnisinhaltes zieht unweigerlich einen Verlust an Information nach sich und benötigt auch einen erheblichen Aufwand an Zeit und Energie.

Daher müssen wir zunächst einmal jeden neuen Inhalt, mit dem wir uns auseinandersetzen, daraufhin untersuchen, was er eigentlich an reinem Merkstoff enthält. Der Großteil eines Lehrbuches soll ja nicht wirklich gelernt werden, sondern dient dazu, uns zu bestimmten Problemen hinzuführen, vorbereitende Kenntnisse zu vermitteln oder die Anwendung und Bedeutung eines eben erarbeiteten Gesetzes zu illustrieren. Was wir wirklich einprägen müssen, sind jeweils kleine Kerninformationen, die allein den eigentlichen Lerninhalt darstellen. Eine solche Kerninformation mag eine mathematische Formel, eine Rechtschreibregel, ein physikalisches Gesetz oder ein geographisches Faktum sein. In allen Fällen müssen wir sie in Form einer kurzen schlagzeilenartigen Formulierung ausdrucken, was unterschiedlich schwierig sein wird und bei einem mathematischen Problem sicher leichter gelingt als etwa bei einer biologischen Gesetzmäßigkeit.

Und welche Größe darf so ein Brocken höchstens haben? Zwar gibt es inter- und intraindividuelle Unterschiede, doch als grobe Faustregel können wir sagen, er darf nicht mehr als 7 Sinneinheiten umfassen und sollte sich in 10 Sekunden hersagen lassen. So können wir also beispielsweise 5 wichtige Kurorte Österreichs zu einem solchen Paket zusammenfassen. Ist unser Lernmaterial aber umfangreicher und haben wir, um bei dem Beispiel aus der Geographie zu bleiben, alle Landeshauptstädte Europas zu lernen, so müssen wir diesen übergroßen Brocken in kleine Bissen zerlegen, von denen keiner die kritische 7-Zahl übersteigen darf.

Was eigentlich geschieht, wenn eine Information aus dem Vorzimmer des Kurzzeitgedächtnisses in die dauerhafte Form des Langzeitgedächtnisses übergeführt wird, wissen wir erst seit kurzer Zeit: Es laufen in unserem Gehirn intensive Umbauprozesse ab, Nervenzellen wachsen, bilden neue Verzweigungen, sodaß als letzte Folge eines intensiven Lernprozesses die Großhirnrinde dicker wird. Diese dauerhaften Veränderungen, diese Wachstums- und Differenzierungsprozesse benötigen sehr viel Zeit und dauern mit Sicherheit viele Stunden, ja wahrscheinlich sogar Tage an. Und damit stoßen wir auf eine überraschende und höchst folgenschwere Tatsache: Das eigentliche Einspeichern beginnt erst, wenn wir selbst aufgehört haben, uns mit den Lerninhalten bewußt zu befassen und läuft über längere Zeit hinweg weiter, während wir längst ganz anderes tun!

Exkurs: Diese Erkenntnisse sind relativ neu - siehe dazu "Zuwenig neue Zellen im Hirn - Seepferdchen als Ursache für Depression?"

Mit dem kurzen Merksatz "Das Hirn lernt länger als das Bewußtsein", können wir diese überraschende Beobachtung über die Dauer des Einspeicherns neuer Inhalte umschreiben. Diese Tatsache ist von höchster praktischer Bedeutung. Hat sie doch zur Folge, daß einem Zeitraum höchste Bedeutung zukommt, den wir in der Regel überhaupt nicht beachten: Der Phase, die auf einen Lernprozeß folgt!

Meist arbeiten wir in der bewußten Lernphase mit höchster Konzentration und sagen, scheinbar zu Recht, ich habe "optimal gelernt"!. Dabei übersehen wir, daß für das eigentliche Einspeichern aber entscheidend ist, was "danach" geschieht. Je ungestörter wir in dieser Zeitspanne bleiben, umso besser wird die neue Information ins Langzeitgedächtnis übertragen. Am besten wäre es daher, im Anschluß an eine intensive Lernphase überhaupt nichts zu tun, oder noch besser: einzuschlafen.

Daraus folgt ein praktischer Hinweis: die Abendwiederholung. Wir heben uns eine kleine Zahl von besonders widerspenstigen Gedächtnisinhalten für den Abend auf - höchstens 3 bis 4 Kerninformationsblöcke! - und wiederholen sie ein letztes Mal im Bett unmittelbar vor dem Einschlafen. Eine solche Spätwiederholung wird eine ganz besondere Einprägungswirkung besitzen.


*) Eine umfassendere Darstellung findet sich im Arbeitsblatt: Struktur und Funktion des Gedächtnisses)
Eine knappe Zusammenfassung des neuesten wissenschaftlichtlichen Forschungsstandes zum Thema Kurzzeitgedächtnis findet sich in der Arbeit von Klaus-Martin Klein: "Das Kurzzeitgedächtnis".
Lern- und gedächtnispsychologische Argumente für eine deutlichere Berücksichtigung der Versprachlichung im (Fach-)Unterricht finden sich in der gleichnamigen Arbeit von Werner Brandl.
Mit den kognitiven Grundlagen der Intelligenz beschäftigte sich Karl Schweizer und belegt, daß das Arbeitsgedächtnis aufgrund der neueren Forschungsergebnisse als die zentrale Ursache für Intelligenzunterschiede auf der Ebene kognitiver Strukturen betrachtet werden muß.

Wer an einem Lernprogramm zum Thema Gedächtnis interessiert ist, sollte die site "Wege in die Psychologie" von Gerd Mietzel und MitarbeiterInnen aufsuchen, auf der interaktive Übungen, Experimente, zusätzliche Zeichnungen und Beispiele angeboten werden. Die beiden folgenden Grafiken - übrigens ein Muster an didaktisch hervorragend aufbereiteter psychologischer Theorie! - stammen aus diesem Lernprogramm:


Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffrin (1968, 1971).

Im Schlaf lernen funktioniert

Unter diesem Titel erschien im Bild der Wissenschaft folgender Bericht:

Vor einer Prüfung zu schlafen bringt mehr als die Nacht durchzubüffeln. Das schließen Forscher um Marcos Frank von der Universität Kalifornien aus Untersuchungen an Katzen. Mit den Experimenten konnten sie erstmals direkt zeigen, dass im Schlaf Eindrücke des Tages im Gehirn festgeschrieben werden, berichten sie im Fachmagazin "Neuron".

Die Forscher deckten bei jungen Katzen für sechs Stunden ein Auge ab. Dadurch bildete sich die Gehirnregion überdimensional aus, die Eindrücke aus dem offenen Auge auswertet. Ein Schläfchen konnte diese Umstellungen beschleunigen: Katzen, die nach der Abdeckung sechs Stunden lang schlafen durften, hatten doppelt so große Änderungen im Gehirn als Tiere, die "durchmachen" mussten.

Selbst Katzen, die zwölf Stunden lang die Augenklappe trugen zeigten geringere Anpassungen im Gehirn als Tiere, die die Klappe nur sechs Stunden trugen und anschließend geschlafen haben.

 Die Umorganisation im Gehirn geschehe vorwiegend in traumlosen Tiefschlafphasen, sagen die Forscher. Solche Anpassungen seien eine Grundlage für Lernen und Erinnern. Die Forscher nehmen an, dass auch bei erwachsenen Tieren und beim Menschen das Gehirn während Tiefschlafphasen besonders plastisch ist und Gelerntes festschreibt.

Quelle: http://warp6.dva.de/sixcms/detail.php?id=88872 (01-05-30)

Siehe dazu auch die neuen Arbeitsblätter

Das Gedächtnis
Wie funktioniert unser Gedächtnis?
Netzwerk Gehirn
Inhaltsabhängige Gedächtnisformen
Speicherabhängige Gedächtnisformen
Aufmerksamkeit
Schlaf und Traum


Ergänzend zu diesen Fakten Reto U. Schneiders Zusammenfassung: Die Macht des Unbewussten.


©opyright Werner Stangl, Linz 1998-2000.
These pages belong to "Werner Stangls Arbeitsblätter":
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