Interview und Fragebogen

Das qualitative Interview

In der Praxis der empirischen Sozialforschung spielen qualitative und offenen Formen des Interviews in vielfältigen Varianten eine Rolle. Sie sind zum Teil in komplexe quantitative Design integriert, etwa in einer hypothesengenerierenden Funktion als Strategie der Instrumentenkonstruktion. Es gibt aber immer mehr Untersuchungen, in denen qualitative Interviews die zentrale Datenbasis bilden.

Das Wort Interview kommt aus dem Anglo-Amerikanischen und konnte sich im 20. Jahrhundert auch im deutschen Sprachraum durchsetzen. Es stammt eigentlich von französischen "entrevue" ab und bedeutet "verabredete Zusammenkunft" bzw. sich "kurz begegnen". Alltagssprachlich ist der Begriff Interview besonders im Journalismus geläufig. Dort ist ein Interview ein "Gespräch eines Journalisten mit einer Person zum Zwecke der publizistischen Verwertung. Obgleich diese Definition noch nicht einer sozialwissenschaftlichen genügt, sind die ihr immanenten Vorstellungsinhalte auch in einer wissenschaftlichen Begriffsbestimmung enthalten: das Interview ist nämlich eine Gesprächssituation, die bewußt und gezielt von den Beteiligten hergestellt wird, damit der eine Fragen stellt, die vom anderen beantwortet werden. Diese Asymmetrie in der Frage-Anwort-Zuweisung ist auch für viele Formen des qualitativen Interviews bestimmend.

Einteilungsgesichtspunkte

Bei MAYRING findet sich ein differenziertes und zur Klassifizierung gut geeignetes Kategoriensystem zur Charakterisierung unterschiedlichster Formen des qualitativen Interviews. Folgende zentrale Einteilungsgesichtspunkte werden dabei als Dimensionen der Differenzierung von Befragungen genannt:

Intention des Interviews

Ein für KOOLWIJK wichtiges Unterscheidungskriterium für Interviews ist die vom Forscher beabsichtigte Richtung des Informationsflusses. Er differenziert im Hinblick auf die Intention der Befragung ermittelnde Interviews, bei denen der Befragte als Träger abrufbarer Informationen verstanden wird und andererseits vermittelnde Interviews, bei denen die Befragungsperson als Ziel einer informatorischen (= zu informierenden) oder beeinflussenden Kommunikation begriffen wird. Im letzten Fall ist nicht der Informationsfluß vom zu Befragenden zum Interviewer Gegenstand des Interviews sondern Absicht ist, eine Erkenntnis- oder eine Bewußtseinsveränderung auf Seiten des Befragten zu provozieren (Handlungsforschung).

Standardisierung

Eine weitere Dimension der Klassifikation von Befragungen ist der Grad der Standardisierung. Diese Dimension ist für die Differenzierung zwischen qualitativen und quantitativen Formen der Befragung konstitutiv und wird im nachfolgenden Kapitel zum standardisierten Interview ausführlich dargestellt. Hingewiesen sei hier nur auf den Umstand, daß eine wissenschaftliche Befragung durchaus in Form von Alltagskommunikation durchgeführt werden kann, wobei Fragen und Antworten sich gegenseitig bedingen und eine mehr oder weniger symmetrischer Gesprächsverlauf zu verzeichnen ist.

Struktur der zu Befragenden

Qualitative Formen des Interviews können auch nach der Struktur der zu Befragenden klassifiziert werden. Bei dichotomer Betrachtung wäre die Einzel- von der Gruppenbefragung zu unterscheiden. Während Gruppendiskussion und Einzelbefragungen qualitativ orientiert sein können, sind reine Gruppenbefragungen, bei qualitativer Methodologie praktisch ausgeschlossen. Umgekehrt kann man sagen, daß qualitative Interview in der Regel Einzelbefragungen sein.

Form der Kommunikation

Ein weiteres Kriterium bei der Differenzierung von Befragungen ist die Präsentierung der Fragen. Im Hinblick auf die Kommunikationssituation lassen sich schriftliche bzw. mündliche Darbietung der Fragen unterscheiden.

Beim Interview erfolgen die Fragen mündlich und die Registrierung der Antworten über den Interviewer. Dieses Vermittlungsinstrument zwischen Forscher und Befragungsperson fällt bei der schriftlichen Befragung weg, weil dort der Befragte den Fragebogen selbständig ausfüllt. Dies bedeutet, daß der Fragebogen hoch standardisiert und gleichzeitig sehr einfach zu beantworten sein muß, weil keine personale Unterstützung beim Ausfüllen möglich ist. Zwar finden sich in der qualitativen Methodologie, z.B. im Bereich biographischer Methoden durchaus schriftliche Formen der Datenerhebung - doch dürfte im Regelfall eine qualitative Befragung mündlich durchgeführt werden.

Stil der Kommunikation

Nach dem Stil der Kommunikation, also nach dem Interviewerverhalten, unterscheidet man zwischen den beiden Extremtypen: weiches und hartes Interview: Weich ist ein Interview, wenn der Interviewer versucht, ein Vertrauensverhältnis zum Befragten zu entwickeln, indem er der Person des Befragten (nicht den Antworten) seine Sympathie demonstriert.

Bei weichen und beim harten Interview geht der Forscher von einer ähnlichen Annahme, nämlich der mangelnden Bereitschaft zur Mitarbeit aus, nur die Strategie ist eine andere. Beim weichen Interview versucht der Interviewer sympathisierendes Verständnis für die Situation des Befragten zum Ausdruck zu bringen und dadurch die widerstrebende Haltung des Befragten abzubauen.

Bei harten Interview, geht der Interviewer so vor, daß er gleichsam als Autorität, wie in einem Verhör, auftritt und sehr massiv Druck macht, um die Widerstände des zu Befragenden zu brechen und Antworten zu erhalten.

Formen des Qualitativen Interviews

Narratives Interview

Diese Form des Interviews ist von SCHÜTZE im Zusammenhang mit einer Studie über kommunale Machtstrukturen entwickelt worden. Es wird besonders häufig in Zusammenhang mit lebensgeschichtlich bezogenen Fragestellungen eingesetzt. Der Begriff wird oft sehr weit gefaßt und als Synonym für qualitative Interviewformen schlechthin verwandt. In der ursprünglichen Form ist das bestimmenden Grundelement, die vom Befragten frei entwickelte, durch eine Eingangsfrage - die erzählgenerierende Frage - angeregte Stegreiferzählung.

In autobiographisch-narrativen Interviews steht neben der Erzählung und dem Nachfrageteil des Interviews ein dritter Hauptteil, der auch als Bilanzierungsteil bezeichnet wird. In ihm werden die Befragten in stärkerem Maße als Experten und Theoretiker ihrer selbst angesprochen und auf abstrakter Ebene zu Generalisierungen und Selbstinterpretationen befragt.

Detaillierte Hinweise zur Planung, Durchführung und Gestaltung eines Narrativen Interviews und ein Beispiel für einen Fragenkatalog finden sich auf einem speziellen Arbeitsblatt.

Problemzentriertes Interview

Mit diesem Begriff bezeichnet WITZEL eine Interview-Variante, die eine sehr lockere Bindung an einen knappen, der thematischen Orientierung dienenden Leitfaden mit dem Versuch verbindet, den Befragten sehr weitgehende Artikulationschancen einzuräumen und sie zu freien Erzählungen anzuregen. Problemzentrierte Interviews werden oft auch als Kompromiß zwischen leitfadenorientierten und narrativen Gesprächsformen angesehen, wobei die Begriffswahl "problemzentriert" kaum trennschaft ist: Denn wer möchte schon darauf verzichten, problembezogene Interviews zu führen.

Fokussiertes Interview

Die Form des fokussierten Interviews wurde in den vierziger Jahren im Zusammenhang mit Kommunikationsforschung und Propagandaanalyse von MERTON entwickelt. Zentral für diese Form des Interviews sind die Fokussierung auf einen vorab bestimmten Gesprächsgegenstand - wie z.B. einen Film, den die Befragten gesehen haben, einen Artikel, den sie gelesen haben, eine bestimmte soziale Situation, an der sie teilhatten u.ä. - und der Versuch, Reaktionen und Interpretationen im Interview in relativ offener Form zu erheben.

Als neuere Varianten fokussierter Interviews gelten oft solche Interviews, in denen Aufzeichnungen zum Tagesablauf oder auch komplexere persönliche Dokumente zum Gesprächsgegenstand gemacht werden, oder Interviews die im Rahmen teilnehmender Beobachtung durchgeführt werden, in denen spezifische gemeinsam erlebte Situationen abgehandelt werden, z.B. Unterrichtssituationen in Interviews mit Lehrern in der Unterrichtsforschung u.ä.

Das standardisierte Interview

Man spricht von einem standardisierten Interview, wenn die Fragen vor dem Interview festgelegt worden sind und mit dem gleichen Wortlaut und in der gleichen Reihenfolge allen Befragten gestellt werden. Die Fragen eines standardisierten Interviews können offen oder geschlossen gestellt werden.

Das wesentlichste Argument zugunsten des standardisierten Interviews ist sehr einfach: Man sollte nicht zweierlei Maß verwenden. Wenn es darum geht Unterschiede oder Zusammenhänge zwischen Befragten im Hinblick auf eine Gruppe von Variablen aufzuzeigen, kann nie entschieden werden, ob die Unterschiede, sich zwischen den Befragten herausstellen, auf die Unterschiede der Meßtechnik oder auf Unterschiede in den zu messenden Einstellungen etc. zurückgehen. Wenn Interviewer mit einem nicht-standardisierten Instrument die Befragung durchführen, verändern sich Wortlaut und die Reihenfolge der Fragen beträchtlich. Es hat sich wiederholt herausgestellt, daß geringfügige Veränderungen im Wortlaut der Fragen bedeutsame Veränderungen in der Häufigkeit der gegebenen Antworten bewirken können. Einstellungen, die ein Befragter äußert, werden immer zu einem beträchtlichen Ausmaß Funktion der Fragen sein, die ihm gestellt worden sind. Befürworter des nicht-standardisierten Interviews halten es hingegen gerade für wichtig, das Vorgehen von einem zum anderen Fall anzugleichen. Sie weisen darauf hin, daß gleiche Worte für verschiedene Versuchspersonen durchaus Unterschiedliches bedeuten können. Wenn man eine standardisierte Frage stellt hat man also noch lange nicht ihre Bedeutung für die Befragten standardisiert. Die Vertreter der Bedeutungsäquivalenz meinen, daß es besser sei, Wörter zu gebrauchen, die gleichwertige Bedeutung für unterschiedliche Befragte haben, und das selbst dann, wenn die Wörter objektive nicht ident sind.

Anwendungsmöglichkeiten

Das Interview bzw. der Fragebogen ist ein allgemein verbreitetes Mittel der Sozialforschung, das bei einer Vielzahl von Projekten, aber auch bei einzelnen Phasen eines Projektes unterschiedlich eingesetzt werden kann.

Die "Kunst" der Operationalisierung

Das Problem der Operationalisierung stellt sich beim Interview im wesentlichen als Problem der Auswahl und der richtigen Formulierung von Fragen dar.

Ein dabei oft gemachter Fehler besteht darin, daß bestimmte Begriffe der Theorie in allzu direkte Fragen übersetzt werden. Wenn ein Untersuchungsziel darin besteht, etwas über die Bestimmungsgründe einer gegebenen Einstellung herauszufinden, so könnte man den Befragten doch einfach fragen: "Warum haben sie das getan" oder "Warum denken sie so". Die Schwächen dieser einfachen Frage nach den "Warum" sind von P. LAZARSFELD (1953) zutreffend beschrieben worden. Er hat darauf hingewiesen, welche Vielzahl von Bezugssystemen auf diese Weise ans Licht gebracht werden könnten, von denen u.U. nur wenige mit dem Untersuchungsziel in Verbindung stehen könnten. In vielen Fällen besteht die schlimmste Schwäche dieses Verfahrens darin, daß man im Grunde von den Befragten erwartet, ein Wissenschaftler zu sein. Ein weiteres Grundproblem bei der Frageformulierung besteht darin, sich zu versichern, daß Fragen für den Befragten eine möglichst klare Vorstellung vom Diskussionsgegenstand erzeugen. Häufig wird in solchen Fällen eine Filterfrage verwendet, die es erlaubt, bestimmte Personen herauszufiltern und bestimmte weitere Fragen an sie zu unterlassen.

Schritte der Fragebogenkonstruktion

Claudia Fronhoff: Das Interview


Quellen: Stigler, Hubert (1996). Methodologie. Vorlesungskriptum. Universität Graz.
WWW: ftp://gewi.kfunigraz.ac.at/pub/texte/meth.doc (98-01-03)
Stangl, Werner (1997). Zur Wissenschaftsmethodik in der Erziehungswissenschaft. "Werner Stangls Arbeitsblätter".
WWW: http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/Arbeitsblaetter.html