"Wie kindgerecht sind unsere Schulen?"

Interview mit Dr. Werner Stangl, Institut für Pädagogik und Psychologie der Universität Linz

Schul-News: Die Schuldiskussionen der letzten Wochen ("Kürzung der Gesamtunterrichtsstunden") zeigen einen breiteren Diskussionsbedarf, wie und was an Österreichs Schulen gelehrt und gelernt werden sollte und wie hoch die Anzahl der Gesamtstunden sein soll. Wie sehen Sie das als Psychologe, wo müsste der Hebel der Veränderung im Schulsystem angesetzt werden?

Dr. Stangl: So sehr eine Stundenreduktion wünschenswert ist - im Hinblick auf eine nachhaltige Reform ist das sicher nur ein Teilaspekt in einem ganzen Paket an notwendigen Maßnahmen, die nicht nur die Schule sondern auch das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit betreffen müssten, insbesondere das Bild, das viele von der Schule haben.

Stellenwert der Schule radikal geändert

Innerhalb einer Generation hat sich der Stellenwert der Schule radikal geändert, denn sie muss insbesondere mit einer Vielfalt von Medien konkurrieren, wobei sie in diesem Konkurrenzkampf immer nachhinken wird.

Zwei Beispiele: Wie soll ein Biologielehrer in seinem anschaulichsten Unterricht mit einer "Universum"-Serie im TV konkurrieren?

Hier in Konkurrenz zu treten führt unweigerlich dazu, dass andere Lebenswelten immer attraktiver werden - eine Besinnung auf die eigentlichen Aufgaben von Schule, etwa exemplarisches Basiswissen zu vermitteln, das kritische Bewertungen erlaubt.

Veränderte Einstellung zur Schule notwendig

Zur Wichtigkeit der Wertschätzung der LehrerInnen sei gesagt, das sich hier gerade in der Familie vieles verändert, so dass sich in der Einstellung der Kinder und Jugendlichen nur die Einstellung der Elterngeneration widerspiegelt - wann wird etwa dieses Unsägliche "Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens!" aussterben?

Schul-News: In Österreich herrscht noch immer Frontalunterricht vor; offene, reformpädagogisch und Projekt orientierte Lernformen werden nur vereinzelt praktiziert. Was sagen die LernpsychologInnen dazu? Wie müsste ein kindgerechter, zeitgemäßer und lebensnaher Unterricht aussehen?

Dr. Stangl: Es ist fraglich, ob man Schule aus lernpsychologischer Sicht überhaupt reformieren kann, denn bei einer ausschließlichen Orientierung an optimalen Bedingungen des Lernens müsste man sie wohl einfach abschaffen. Auch ist die Unterrichtsform weniger ausschlaggebend als man meinen könnte, denn ein guter Lehrervortrag kann durchaus mehr Wissen vermitteln als mittelmäßiger, Projekt orientierter Unterricht.

Forcierung des handlungsorientierten Lernens

Die generelle Tendenz in Richtung handlungs-orientierten Lernens ist zwar auch aus psychologischer Sicht zu begrüßen, aber hier ist der Wechsel der Unterrichts- und Sozialformen wohl das Entscheidendere.

Schule als Schonraum für Kinder

Gerade aus der psychologischen Perspektive heraus ist das System Schule mit seinen Jahrgangsklassen ein Hinderungsgrund für kindgerechtes Lernen, denn Kinder unterscheiden sich trotz der jahrelangen Normierung durch das Schulsystem durch individuelle Neigungen, Interessen und Fähigkeiten. Einen bloß zeitgemäßen und lebensnahen Unterricht zu fordern wäre gleichfalls kurzsichtig, denn Schule sollte bis zu einem gewissen Grad einen Schonraum darstellen, in dem unter Anleitung des Lehrers ein persönlicher Entwurf der Welt "da draußen" entwickelt werden kann, der nicht so leicht durch Moden destabilisiert werden kann.

Eher kommt es darauf an, den Kindern zu vermitteln, dass sie einen sicheren Standpunkt haben, von dem aus sie auf Entdeckungsreise gehen können.

Lernen als sozialer Prozess

Lernen ist in hohem Ausmaß ein sozialer Prozess, und zwar nicht nur einer zwischen Lehrendem und Lernenden, sondern durch den Unterrichtsinhalt ist immer auch das personale Umfeld gegenwärtig, da sich der Lernende immer die Frage stellt, welchen Bezug das zu vermittelndes Wissen im Hinblick auf das eigene Leben hat.

Schul-News: Der österreichische Lehrplan sieht vor, dass sich SchülerInnen Schlüsselqualifikationen und dynamische Fähigkeiten bereits in der Schule aneignen. Soziales Lernen wird von allen Seiten gefordert und seit PISA 2000 wissen wir auch, dass österreichische SchülerInnen mangelnde Problemlösungskompetenzen haben und dass Handlungsbedarf besteht. Welche Unterstützung brauchen LehrerInnen und die einzelnen Schulen, um diesen Forderungen gerecht zu werden?

Dr. Stangl: Das Problem an solchen Forderungen ist, dass viele der heute als wichtig definierten Qualifikationen stark zeitgebunden und bloße Leerformeln sind. So kann man in jeder besseren Stellenausschreibung und demgemäß auch in den Forderungen an die Ausbildung durch die Schule lesen, wie wichtig soziale Kompetenzen wären und dass diese natürlich auch in den Schulen vermittelt werden sollten.

Leistungsdruck im Steigen begriffen

Wenn man sich aber die soziale Realität anschaut, dann dominiert ein für viele unerträglicher Leistungsdruck, der den Wert einer Person nur mehr am Output hinsichtlich des Sozialprodukts definiert. Soziale Kompetenzen verkommen in einem solchen System zu oberflächlichen Ritualen, die man zu erfüllen hat, d.h., es zählt nicht so sehr das, was einem anderen nützt, sondern wie ich es öffentlich darstelle. Das Erlernen des täglichen Umgangs mit Mobbing sind wohl jene Bildungsziele, die man heute von unserem Schulsystem verlangen sollte, wenn man nicht aus zahlreichen Studien wüsste, dass diese "Sozialformen" vor allem im Schulsystem und dort auf allen Ebenen am besten gedeihen und dort eher gelernt und perfektioniert werden.

Schule als Spiegelbild gesellschaftlicher Strukturen

Schule ist heutzutage viel weniger Ort der Vermittlung von kognitiven Kompetenzen und Wissensinhalten als man gemeinhin meinen mag, sondern viel eher bloßes Spiegel- und manchmal auch Zerrbild gesellschaftlicher Macht- und Handlungsstrukturen.

Schul-News: Wie können Eltern ihre Kinder dabei unterstützen, mit einem Schulsystem, das abrufbare und testbare Leistung zur obersten Maxime erhebt, die Schulzeit trotzdem positiv und entwicklungsfördernd zu erleben?

Dr. Stangl: Ich habe vor vielen Jahren in einer Studie zum Verhältnis zwischen den Schulpartnern die Eltern als "Hilfslehrer der Nation" bezeichnet, die gemeinsam mit Nachhilfelehrer sicherstellen müssen, dass Kinder und Jugendliche mit einigem Gewinn das System Schule "überstehen". Vermutlich hat sich die Situation - wenn ich in den Tageszeitungen die Anzeigen der Nachhilfeschulen betrachte - noch verschärft bzw. es ist die außerschulische Parallelausbildung beinahe zum Regelfall geworden.

Nachhilfe signalisiert den Lehrern, dass es ohnehin funktioniert

Es wäre ein sinnvolles - aber wohl nicht realisierbares Anliegen - die Eltern dazu zu bringen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Denn wohl den wenigsten Eltern ist bewusst, dass sie einerseits über die enormen Stoffmengen klagen, andererseits aber durch bezahlte Nachhilfe den Lehrern über die Leistung ihrer Kinder das Signal vermitteln, dass es ohnehin funktioniert. Zwar sollten Eltern durch die Unterstützung bei der richtigen Schulwahl oder durch verantwortliches Interesse am Schulleben ihrer Kindern einen wichtigen Anteil leisten, gleichzeitig sollte aber deutlich bleiben, dass sie alleine als "Schulfremde" wenig Einfluss auf innere Abläufe in der Schule haben.

Kinder nicht nur über ihre Schülerrolle definieren

Aus psychologischer Perspektive wäre aber vor allem zu fordern, dass Eltern lernen, ihre Kinder nicht ausschließlich über die Schülerrolle und die dabei erbrachten Leistungen zu definieren.

Interview wurde redaktionell gekürzt