Leserbrief zu Hans Haiders Artikel "Die Computer-Kinder haben auch lesen gelernt - und zwar besonders gut"

Werner Stangl, Die Presse vom 5. 1. 2002

So unbegründet der Jubel der Bildungspolitik auf die Ergebnisse der PISA-Studie war, so unverständlich ist auch die Schlußfolgerung Hans Haiders daraus. Die in der Studie geprüfte Lesekompetenz hat nichts mit dem von Hans Haider beschriebenen Lesen von Literatur zu tun, sondern schlicht mit der Fähigkeit von 15-jährigen, z.B. aus einer Gebrauchsanleitung die richtigen Schlüsse zu ziehen, eine mathematische Textaufgabe zu verstehen, oder aus einem vorliegenden wissenschaftlichen Text einige Informationen herauszufiltern. Auch sind die allerorts diskutierten Ursachen für das Abschneiden Österreichs etwa im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Ländern aufgrund des rein deskriptiven Charakters der Studie reine Spekulation und weder durch die Daten noch die vorliegende Darstellung der bisherigen Ergebnisse gerechtfertigt.

Ass. Prof. Dr. Werner Stangl
Institut fuer Pädagogik und Psychologie der Universität Linz
w3: http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/ 


Der Artikel

29.12.2001

Die Computer-Kinder haben auch lesen gelernt - und zwar besonders gut

Auf Rang zehn von 31 landeten Österreichs 15jährige bei einer OECD-Messung der "Lesekompetenz". Trotz ihrer Bildschirm-Passionen.

VON HANS HAIDER

Der Vierzehn-, der Sechzehnjährige vor dem Dauerbrenner. Blaß, beinahe anämisch wirken sie im Bildschirmlicht. Krank? Der Schein trügt. Tastentappwildheit, das Keyboard glüht beinahe. Chat-Rooms über Clubbing, Politik? Sind den jungen Herren zu blöde, sprachlich und so. Gepflegte Mail-Konversation, sogar über Politisches, ist o. k. Sie sind stolz auf eine saubere "History" (Schmutz und Schund hinterlassen Spuren auf der Festplatte!). Sie lieben ihr ton-, doch nicht sprachloses Experten-Palaver, etwa über Schwachstellen in Windows XP. 

In der Schule, jammert mein familiäres Zweier-Sample, müsse es ab und an auch literarische Bücher lesen: "Michael Kohlhaas" von Kleist ist in der Fünften dran, "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers in der Sechsten Gymnasii. (Beide Titel finden sich bei Marcel Reich-Ranicki im jüngsten "Spiegel"-Lesekanon für die sich bildende Jugend.) Sie lesen Molnárs "Liliom" und Orwells "Animal Farm" - im originalen Englisch, eingekürzt für die studierende Jugend. Keine üble Mischung. 

Aber daß die jungen Herren freiwillig ein Buch in die Hand nähmen? Droht mit der Elektronifizierung der Kinder- und Jugendzimmer eine Bildungs-Misere? 

In Deutschland kultiviert derzeit das Feuilleton Katzenjammerstimmung. Nicht jeder rührt so beherzt um wie Joachim Kaiser, der in der "Süddeutschen Zeitung" seinen Ruf nach mehr Feuer bei der kulturellen Teilhabe unter den Titel "Weihnachtsbitte um Passion" stellte. Seine Diagnose: "Es gehört mittlerweile beinahe schon zum schicken Konsens, die Vokabel Bildung als lächerlich altmodisch zu disqualifizieren. Vollends reaktionär gilt für gewisse Kreise die mahnende Erinnerung an den Bildungs-Kanon jener bedeutsamen Werke, Gedanken und Theorien, welche einst den objektivierten Geist einer Kultur, einer Sprachgemeinschaft, einer Nation stifteten." Dr. Kaisers Therapie: "Man muß sich auch mal auf Leben und Tod zu identifizieren wagen! Was junge Leute nur um der Prüfung willen rasch in sich hineinpauken, das vergessen sie genau so schnell". 

Kaiser steht nicht so ratlos vor dem Bildungs-Loch wie viele andere Deutsche - die beispielsweise nun die Lesewut in Finnland studieren. Denn dort wurde bei der weltweit bisher umfassendsten Messung des Bildungserfolgs am Ende der Pflichtschulzeit, also bei 15jährigen, die beste Note gemessen. 

Diese "PISA" benannte Studie - in Österreich betreut sie ein Pädagogikprofessor mit sechs Mitarbeitern - wurde von der OECD in 31 Ländern in Auftrag gegeben. Kontrolliert wurden Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung. Finnland, Japan, Neuseeland, Korea, Großbritannien liegen an der Spitze. 

Deutschland weit hinten 

Österreich darf sich sehen lassen, auch gegenüber allen Nachbarländern: Rang zehn beim Lesen, Rang 11 bei Mathematik, Rang 8 bei den Naturwissenschaften. Und Deutschland? Abgeschlagen im unteren Drittel, hinter den Tschechen, fast gleichauf mit Polen und Ungarn. Darum auch viele panische Reaktionen in Berlin: Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) forderte gleich mehr Geld für die Lehrer. FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper kritisierte, daß Deutschland sich nach der Wiedervereinigung nicht mehr vom ostdeutschen Bildungssystem abgeschaut hat. 

Am meisten schmerzt im Lande von Goethe und Schiller, daß es beim Lesen die 15jährigen bloß auf Platz 21 gebracht haben. Dabei unterscheidet sich der deutsche vom österreichischen Nachwuchs kaum im Freizeitverhalten. Der Computer ist da wie dort Passion. 

Zurück zu unseren Büchermuffeln, Buchzwangslesern: Wo haben sie denn Lesen gelernt? Österreichs Lehrer (pardon, es sind viel mehr Lehrerinnen) dürfen sagen: bei uns! Sogar die Zeitungsschreiber dürfen aufzeigen. Österreich wird oft eine historisch begründete Buchstabenferne vorgeworfen: Gegenreformation versus evangelische Bibelkultur. Alles nicht wahr! 

Copyright "Die Presse", Wien


Quelle: http://www.diepresse.at/detail/default.asp?id=266139 (01-12-31)