Leserbrief aus den OÖNachrichten vom 17.10.2002

Legasthenie

Betreff: "Massenflucht in die Legasthenie" von Christian Schacherreiter (OÖN vom 25. 10.2002).

Lieber Christian Schacherreiter,

so sehr ich Ihre Beiträge zur Hebung der allgemeinen sprachlichen Qualität schätze, so problematisch finde ich Ihren heutigen Beitrag zum Thema Legasthenie (Dyslexie). Auch wenn Ihnen zuzustimmen ist, daß mit diesem Begriff viel Schindluder getrieben wird, so gibt es diese Lese- und Rechtschreibschwäche nun einmal "tatsächlich", wobei man sie eben nicht mit einer generellen Rechtschreibschwäche verwechseln sollte. "Echte" Legastheniker verzweifeln nämlich gerade daran, daß sie sich noch so sehr bemühen und noch soviel üben können, aber ihre typischen Fehlleistungen sich dennoch kaum vermindern. Vielleicht machen Sie sich einmal auf
http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/
ARBEITSBLAETTERORD/PSYCHOLOGIEORD/Legasthenie.html
und den dort angegebenen links kundig.

BTW: Die von ihnen "befürchtenderweise" noch zu erfindende Rechenschwäche gibt es schon lange als Fachbegriff, und zwar unter dem zur Dyslexie analogen Begriff der Dyskalkulie.

Werner Stangl, Linz


Email vom 27.10.2002

Legasthenie und Dyskalkulie

Sie haben recht - die Darstellungen im Internet sind zahlreich - 1000 Seiten wurden von mir alleine in den letzten 6 Jahren generiert als Betroffener und als Initiator vieler gemeinnütziger Vereinsaktivitäten.

Ein nichtwirtschaftliches Beispiel ist eine neue CD-Rom "Legasthenie und Dyskalkulie" mit 1709 Arbeitsblättern zum Ausdrucken, 75 Spielen, e-learning Dyslexia Course und vielem mehr.

Kostenlos unter http://www.Legasthenie-und-Dyskalkulie.com erhältlich.

Ich bin absolut nicht der Meinung, dass man dabei bleiben hätte sollen, dass 15 % der Weltbevölkerung einfach Rechtschreibfehler machen, während sie keine sprachlichen Antitalente sind. Man sollte nämlich das Leid nicht erkannter legasthener Kinder, ihre Nöte, ihre Ängste, ihre Verzweiflung, manchmal ihre Selbstaufgabe nicht als neuerschlossenen Absatzmarkt betrachten, sondern individuell und gezielt jedem einzelnen betroffenen Kind helfen.

Dass auch legasthene Kinder im Schulalltag und damit im weiteren Leben bestehen, sehe ich als wichtige Aufgabe unserer Gesellschaft an.

Dies ist aber ohne Information und Aufklärung nicht möglich! Damit ist den Kindern und der Sache geholfen.

MfG

Mario Engel


Kolumne von Christian Schacherreiter (Samstag 25. Oktober 2002)

Massenflucht in die Legasthenie

Ach Gott, die Legasthenie! Wer sie erfunden hat, verdient auf alle Fälle einen Wirtschaftspreis. Im heimischen Bildungswesen ist sie seit Jahren ein Hit. Suchen wir auf österreichischen Internet-Seiten Informationen unter dem Stichwort "Legasthenie", dann bieten sich Hunderte von Eintragungen auf nicht weniger als 63 Seiten an. Wer sich auf diesen Seiten informiert, wird gewiss gescheiter. Ob ihm das Phänomen Legasthenie klarer wird, wage ich freilich zu bezweifeln. Zu unterschiedlich sind die Zugänge zum Thema, zu widersprüchlich die Theorien, zu zahlreich die Definitionsversuche. Und viel zu zahlreich sind die pseudopädagogischen Scharlatane, die mit der Lese- und Rechtschreibnot der Kinder vor allem eins machen wollen: gute Geschäfte.

In den Anfängen des Legasthenie-Diskurses verstand der Volksmund unter einem "Legastheniker" einen Menschen, der viele Lese- und Rechtschreibfehler macht, ohne dass er ein sprachliches Anti-Talent wäre. So vereinfachend dieses Verständnis klingen mag - im Wesentlichen hätten wir dabei bleiben sollen. Es gibt sie ja wirklich, die Schülerinnen und Schüler, die zwar Lese- und Rechtschreibfehler machen, aber Texte verstehen und ihre Gedanken- und Vorstellungsfülle in grammatikalisch richtigen, ja sogar in stilistisch eleganten Sätzen unterbringen. Dieses Sprachphänomen kann eine kluge Sprachdidaktik gut diagnostizieren und menschenfreundlich betreuen. Aber manche Anhänger der Legasthenie wollten ihre Vorstellungen von der Sache nicht beschränken auf falsche Dehnungen und Verdoppelungen, auf umgestellte Buchstaben und fehlende Endungen. Sie wollten mehr.

Sie definierten "Legasthenie" als prinzipielle Lese- und Schreibschwäche. Gleichzeitig erklärten manche diese Schwäche zur gehirnphysiologischen Behinderung und zogen daraus den Schluss, dass ein Legastheniker in den Sprachfächern genauso behandelt werden müsse wie ein einarmiger Schüler im Fach "Leibesübungen". So betrachtet müsste die Schule allen Kindern und Jugendlichen mit Lese- und Schreibschwächen eine Teilbefreiung vom Fach Deutsch gewähren, also mit deutlich verminderten Leistungsansprüchen auftreten.

Keine Frage, dass unter solchen Bedingungen der Status "Legastheniker" begehrenswert wird und eine Art Massenflucht der Schreibschwachen in die Legasthenie einsetzt. Ist dieser Boden erreicht, scheint der Kampf um den positiven Abschluss in Deutsch gewonnen zu sein. Gefördert wird diese absurde Entwicklung von jenen Deutschlehrern, die früher als nötig und strenger als nötig mangelhafte Rechtschreibung sanktionieren. Je wilder und hysterischer der orthographische Terror schon in den ersten Schuljahren wütet, umso heftiger wird die Angst vor dem "Nicht genügend" und der Wunsch nach jener geschützten Zone, über der das rettende Schildchen "Legasthenie" leuchtet. Mich wundert übrigens, dass man für die Mathematik noch keine analoge "Behinderung" erfunden hat. Ich rege die Kreation "Zahlenschwäche" an. Ein dem Griechischen entnommener Begriff ist dann rasch zur Hand. Medizin und Psychologie springen hospitalisierend bei. Der Pädagogik-Markt giert sowieso nach neuen Absatzmöglichkeiten. Und so wäre wieder einmal allen geholfen - bloß den Kindern und der Sache nicht.

OÖNachrichten vom 25.10.2002


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Quelle: http://www.nachrichten.at/home/119803?PHPSESSID=8c3d0c5ef22ec77a72d449581ff32172&login=%A1%AD%CE%9B7%22%FF%FC%D1%B0%F6%9F%8FtR%06 (02-11-19)