*DIE PSYCHOLOGIE DES WISSENSCHAFTLERS*

 

aus:
Stangl, Werner (1989).
Das neue Paradigma der Psychologie.
Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
ISBN: 3-528-06342-4

 

In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen werden, welche Rolle der Wissenschaftler, also das handelnde Subjekt der Forschung, im Rahmen der Wissenschaft spielt. Dabei wird davon ausgegangen, daß diese Rolle in enger Beziehung zu dem Paradigma steht, das er vertritt. Da ein Paradigma in dem in dieser Arbeit vertretenen Sinn als Leitlinie und als per definitionem nicht mehr weiter hinterfragbarer Rahmen des wissenschaftlichen Handelns interpretiert wird, muß die Frage nach der Übereinstimmung dieses Handelns mit einem "idealen" paradigmatischen Handlungsmuster als zentrales Problem jeder Wissenschaft bzw. der Wissenschaftlichkeit betrachtet werden. In einem Paradigma werden gewissermaßen die impliziten Anforderungen an die jeweilige Disziplin und die in ihr handelnden Subjekten formuliert.

ULICH (1980, S. 553) nennt vier "Rationalitätskriterien" wissenschaftlichen Handelns, die gleichzeitig auch als Kriterien für ein an das herrschende Paradigma der scientific community angepaßtes Verhalten gelten können:

"1. Voraussetzungsexplikation: Jeder Wissenschaftler muß die normativen, methodologischen und theoretischen Voraussetzungen offenlegen, die in seine Fragestellungen und Vorgehensweisen eingehen. Dies bezieht sich auch auf eine mögliche Identifikation mit bestimmten Interessengruppen, Weltanschauungen und Problemlösungen.
2. Öffentlichkeit: Jeder Wissenschaftler muß auf die Kommunizierbarkeit und Kritisierbarkeit seiner Aussagen achten. Er muß die Institutionalisierung seiner Tätigkeit bedenken und deren Folgen berücksichtigen. Aus dem Prinzip der 'Öffentlichkeit' kann ein Prinzip des 'Minderheitenschutzes' abgeleitet werden, das z.B. die Unterdrückung von Lehrmeinungen verhindert, die auf Grund bestimmter wissenschaftsexterner Machtkonstellationen und Interessen gerade nicht durchsetzungsfähig sind.
3. Wahrheitsgehalt der Aussagen: Jeder Wissenschaftler muß angeben können, wie er den Erkenntnisgehalt seiner Aussagen sichern, überprüfen und verteidigen kann, wie der Wirklichkeitsbezug hergestellt wird , wann er einen Sachverhalt z.B. 'erklärt' ansieht, welche Kriterien von 'Gewißheit' er anwendet bzw. gelten läßt.
4. Reflexivität und Verantwortbarkeit: Jeder Wissenschaftler muß sich während des gesamten Forschungsprozesses auf seine ursprünglichen Ziele rückbeziehen und seine einzelnen Entscheidungen unter Berücksichtigung der Ziele legitimieren können. Er muß sich seiner eigenen Interessen und Wertbezogenheit bewußt sein und die Verantwortung für die Konsequenzen tragen können; wenn er dies nicht kann, muß er seine Ziele revidieren".

ULICH schränkt dann noch ein, daß diese Forderungen nicht den Eindruck erwecken sollen, als sei es Sache der moralischen Integrität bzw. seines Gewissens, nach welchen Wertvorstellungen er sein Handeln organisiert. Man muß sich allerdings fragen, wer dann die Einhaltung dieser "Gebote" bewerten soll. Etwa die Moralität der scientific community? Wie sich im folgenden zeigen wird, sind solche Regeln vermutlich bloße Utopie und kaum das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Das hat sicherlich mit dem vorherrschenden Paradigma in der Psychologie zu tun, denn dort werden ja subjektive Bewertungen und Maßstäbe ebenfalls soweit objektiviert, daß sie mit dem intendierten Gehalt kaum noch etwas zu tun haben. In einer - ohnehin nur vermeintlich - auf objektive Realität und Wahrheit ausgerichteten Disziplin kann nicht erwartet werden, daß die beteiligten Personen ihr Handeln dann an irgendwelchen grundsätzlich und per definitionem nicht objektivierbaren Werten ausrichten, vielmehr bleibt ihnen nur eine Form der Verdrängung oder Sublimierung, die sich dann in einem solchen Kanon wissenschaftlichen Handelns manifestiert. Diese Voraussetzungen wissenschaftlichen Handelns können auch als versuchte Abgrenzungen gegen alltägliches, oder besser, nicht-wissenschaftliches Handeln betrachtet werden, wobei dann diese Forderungen gewissermaßen eine Zweiteilung des Wissenschaftlers erfordert, etwa in der Art, beim Eintritt in eine Institution seine Subjektivität an der Garderobe abzugeben und den Arbeitsmantel der Objektivität anzuziehen. Wie sich im folgenden zeigen wird, ist der Wissenschaftler wohl damit überfordert, wobei sich das nicht als Problem der Wissenschaftlichkeit darstellt, sondern vielmehr als Problem des Selbstverständnisses einer wissenschaftlich handelnden Person.

SINGER (1971) weist darauf hin, daß wissenschaftliches Handeln in der Psychologie immer schon als ganz normale Problemlösungsaktivität aufgefaßt worden ist und daß in diesem Bereich kein so großer Unterschied zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Verhalten besteht. CAMPBELL (1960) geht sogar so weit, im blinden biologischen trial-and-error Verhalten auch das Handlungsmuster der Wissenschaften zu sehen. Da in dieser Arbeit vor allem der wissenschaftlich handelnde Psychologe zur Diskussion steht, kann man daher in gewissem Sinn von der Notwendigkeit einer "Psychologie des Wissenschaftlers" sprechen, die Aufschlüsse darüber zu geben hat, ob und wie ein psychologisch-wissenschaftlich Handelnder unter dem von ihm gewählten oder auch nur unbewußt übernommenen bzw. - aus der Sicht eines Außenstehenden - akzeptierten Paradigma agiert. Zwar betrifft diese Frage grundsätzlich alle Wissenschaften bzw. alle Wissenschaftler, doch soll in unserer Analyse der wissenschaftliche Psychologe im Vordergrund stehen. Diese Analyse der eigenen Tätigkeit ist mir - zumindest von einer ethischen Ebene aus betrachtet, wie sie auch der oben zitierte Kanon ULICHs nahelegt - eine der Voraussetzungen dafür, eine allgemeine Psychologie der Wissenschaften zu betreiben.

Schon BUNGE (1967) weist der Psychologie als Tatsachenwissenschaft eine wichtige Rolle - neben der Soziologie und Geschichtsforschung - bei der Erforschung wissenschaftlichen Handelns zu. Sie soll in diesem Zusammenhang das individuelle und soziale Handeln des Wissenschaftlers im jeweiligen sozio-kulturellen Kontext untersuchen und analysieren. "Psychology can make important practical contributions to the progress of science. The philosophy of science has generated many fundamental questions about scientific behavior which can be translated into research problems for the psychologist" (SINGER 1971, S. 1014).

Wie SCHNEEWIND (1977, S. 24) betont, ist die Psychologie geradezu eine spezielle Teildisziplin der Wissenschaftswissenschaft. "Sie nimmt dabei alle Formen menschlichen Verhaltens und Erlebens, insofern sie sich auf wissenschaftliche Tätigkeit und ihre Produkte beziehen, in den Blick. Entsprechend dem grundlegenden Aufgabenkanon der Psychologie sollen die Ergebnisse und Formen wissenschaftlichen Handelns beschrieben, erklärt, vorhergesagt und gegebenenfalls verändert werden". Die Psychologie soll dies mit Rückgriff auf die verschiedenen Wissensbestände der Teildisziplinen (Allgemeine Psychologie, Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitspsychologie usw.) tun, wie dies BRANDTSTÄDTER & REINERT (1973) bei ihrer Konzeption einer Wissenschaftspsychologie darlegen.

Vor allem POLANYI (1968, 1969) hat - als Chemiker und Wissenschaftstheoretiker mit umfassenden psychologischen Kenntnissen - eine detaillierte psychologische Analyse des wissenschaftlichen Handelns angestellt. Er meint u.a., daß die Wissenschaft nur eine einfache Fertigkeit darstellt, die wie andere menschliche Fertigkeiten auch eher intuitiv und aufgrund nicht näher artikulierbarer Regeln voranschreitet. Vor allem verweist er auf die motivationalen Komponenten wissenschaftlichen Handelns, die neben den untersuchten Phänomenen der Lern- und Gedächtnispsychologie eine wesentliche Rolle spielen. So sind seiner Meinung nach Wissenschaftler vor allem aufgrund eines Kuriositätsstrebens, wie es BERLYNE (1966) postuliert hat, zu ihrer Arbeit motiviert; die sogenannte Intuition des Wissenschaftlers ist nach seiner Meinung vor allem auf unbewußte Wahrnehmungsprozesse zurückzuführen.

Diese hier angeführten psychologischen Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichem Handeln sind aber in der Regel spekulativ bzw. es wurden keine umfassenden empirischen Anstrengungen unternommen, um die aufgestellten Behauptungen zu überprüfen. Vermutlich hat die Psychologie auch eine gewisse Scheu davor, sich mit "Kollegen" anderer Wissenschaften auseinanderzusetzen. FISCH (1979, S. 3) weist allerdings darauf hin, daß sich die Hinweise mehren, daß sich Wissenschaftler für sich selbst und ihre Arbeit zu interessieren beginnen. Dies hängt bei Psychologen zum Teil damit zusammen, daß sich im Berufsalltag der universitären Forschung ein Umbruch vollzog, der zum Teil bedingt ist durch auferlegte Änderungen der Ziel- und Wertsysteme an den Universitäten. "Das geschieht zum Teil mit erheblichen Reibungsverlusten im Organisationsalltag und hinterläßt Veränderungen in den Selbstkonzepten der Wissenschaftler, was wiederum Auswirkungen auf ihr zukünftiges Verhalten haben dürfte. Die Berufsarbeit des Wissenschaftlers steht im Schnittpunkt sogenannter gesellschaftlicher Ansprüche und individueller Motive, Ziele, Erwartungen. Die Bewältigung des Alltags erfordert damit die Bewältigung einer komplexen (d.h. in der Regel nicht immer durchschaubaren) sozialen Situation mit institutionalen und personalen Momenten. Die informellen Diskussionen unter Kollegen zeigen, daß es oft sehr schwierig ist, mit dieser Situation fertig zu werden". Diese kurze Skizze einiger Probleme des wissenschaftlichen Alltags verweist darauf, daß Wissenschaftler hinsichtlich ihres beruflichen Umfeldes vermutlich nicht von anderen Berufstätigkeiten unterschieden werden können.

Psychologie und die Untersuchung wissenschaftlichen Handelns

Während es zahlreiche soziologische und historische Analysen des Wissenschaftsbetriebes gibt (eine Liste der wichtigsten Arbeiten in diesem Bereich findet sich bei MAHONEY 1979, S. 367f), ist eine Psychologie des Wissenschaftlers noch nicht geschrieben. Zwar gibt es eine Reihe autobiographischer, essayistischer oder spekulativer Arbeiten bedeutender Psychologen zu diesem Thema (vgl. etwa SKINNER 1970, WATSON 1938, SELYE 1964, MASLOW 1966, TURNER 1967), doch bis auf wenige Ausnahmen - die im folgenden noch zitiert werden - gibt es nur vereinzelte Ansätze, diesen Problembereich systematischer zu untersuchen (z.B. MAHONEY 1976, MITROFF 1974). Schon STEVENS (1936, 1939) sprach von einer "science of science", die er zwischen Wissenschaftstheorie und Psychologie angesiedelt haben wollte. Er meinte, daß die Psychologie eine propädeutische Funktion für alle Wissenschaften habe, da sie nach allgemeinen Verhaltensgesetzen von Wissenschaftlern suchen könnte. "Stevens saw in the vigorous new philosophic doctrines of operationalism and logical positivism a thrust toward an explicit psychological analysis of science. Some 30 years have passed, and we do not as yet have a developed, self-conscious discipline of a science of science" (SINGER 1971, S. 1010). Diese Vernachlässigung läßt natürlich viele Spekulationen über die Ursachen zu. Möglicherweise gibt es einen generellen Konsens darüber, was Wissenschaftler tun, sodaß sich hier keine Fragen stellen. Es ist aber auch möglich, daß vor allem im Bereich der Naturwissenschaften durch das vorherrschende Paradigma die Rolle des wissenschaftlichen Subjekts ausgeblendet bleibt. Letzteres hängt vermutlich mit dem Postulat der Objektivität von wissenschaftlichem Handeln zusammen, wonach der wissenschaftliche Prozeß und die Resultate in keinem Zusammenhang mit den Personen stehen darf.

LAKATOS (1974, S. 174) weist ironisch darauf hin, daß es zwei Arten von psychologistischer Wissenschaftstheorie gibt. "Nach der einen kann es keine Wissenschaftstheorie geben, sondern nur eine Psychologie individueller Wissenschaftler. Nach der anderen gibt es eine Psychologie des 'wissenschaftlichen', 'idealen' oder 'normalen' Geistes: diese verwandelt die Wissenschaftstheorie in eine Psychologie dieses idealen Geistes und bietet außerdem eine Psychotherapie zur Verwandlung gewöhnlicher Geister in ideale". Hier geht es nur um die erste Art, denn die zweite ist nach dem in dieser Arbeit vertretenen Paradigma insofern unsinnig, als sie an irgendwelchen Durchschnitten oder von Personen losgelösten Entitäten betrieben werden müßte, die aber ihre Bedeutung erst durch das individuale Subjekt erhalten.

Im folgenden werden im Anschluß an MAHONEY (1976, 1979) einige Problemkreise einer "Psychologie des Wissenschaftlers" diskutiert und anhand der wenigen Untersuchungen zu diesem Problemkreis kritisch beleuchtet. Dabei geht es vor allem darum, das Selbstverständnis des Wissenschaftlers und seines wissenschaftlichen Handelns zu beleuchten und auch den schon an anderer Stelle angesprochenen Unterschied zum alltäglichen Handeln näher zu untersuchen. Dabei werden in Bezug auf die Zielsetzung dieser Arbeit vor allem solche Untersuchungen und Arbeiten diskutiert, die sich mit psychologischen Wissenschaftlern beschäftigt haben. Teilweise handelt es sich hier auch um einen Vorgriff auf das neu zu entwicklende Paradigma, denn dieses rückt den Wissenschaftler als aktiv und subjektiv (re)konstruierendes Subjekt in den Mittelpunkt. Es soll aber auch gezeigt werden, daß die oben genannten und auch zahlreichen anderen Postulate an wissenschaftliches Handeln angesichts der "Realität" Chimären gleichen.

Zusätzlich werde ich neben einschlägigen empirischen Ergebnissen auch persönliche Erlebnisse bzw. Ergebnisse kleinerer empirischer Analysen als Beispiele für die angesprochene Problematik anführen. Dabei wird in der Hauptsache auf eine Befragung von 160 Studenten im ersten Studienabschnitt bezug genommen, bei der eine Liste von 14 Aussagen über Wissenschaftler zur dichotomen Bewertung (Zustimmung oder Ablehnung) vorgelegt wurde, die im wesentlichen an den von MAHONEY untersuchten Merkmalen des Wissenschaftlers orientiert war. Diese Studenten waren Teilnehmer an Einführungsseminaren zur Methodenthematik in den Sozialwissenschaften, wobei diese Gruppe aufgrund ihrer noch geringen Erfahrungen mit Wissenschaft vermutlich noch "unkritischer" sind als Studenten höherer Semester. Die persönlichen Erfahrungen dieser Studenten mit Wissenschaft stammen in der Regel aus den Kontakten in Lehrveranstaltungen, wobei in diesem Teil des Studiums durch die Dominanz von Vorlesungen eher noch eine gewisse Distanz zu den lehrenden Wissenschaftlern bestehen dürfte. In dieser Gruppe überwiegen weibliche Befragte (73 %), das Alter lag zwischen 19 und 45 Jahren mit einem Median von 20 Jahren.

Es werden in den folgenden Abschnitten zunächst jene "Merkmale des Wissenschaftlers" untersucht, die sich direkt aus dem von ihm vertretenen empirizistischen Paradigma ergeben: Das sind das Postulat der Objektivität und das Postulat der argumentativen Rationalität. Diese beiden ersten Aspekte betreffen gewissermaßen die kognitive Seite der Medaille, während die andere Seite eher Anforderungen an die Persönlichkeit des Wissenschaftlers darstellen: die Postulate der Unvoreingenommenheit, der Integrität und der Kooperativität. Eine ähnliche Unterscheidung trifft SINGER (1971) wenn er zwischen einer psychologischen Analyse der Wissenschaft als spezifische Form kognitiver Aktivitäten und der Analyse der Wissenschaft als Tätigkeit unterscheidet. Diese Unterscheidung ist aber nur pragmatischerweise und grob zu treffen, denn beide Bereiche hängen natürlich eng miteinander zusammen und sind bis zu einem gewissen Grad wechselseitig voneinander abhängig. Schon MASLOW (1966) wies darauf hin, daß individuelle Unterschiede und emotionale Faktoren nicht von kognitiven Aspekten getrennt werden können. Insgesamt sollen die hier berichteten Untersuchungen auch aufzeigen, daß ein wissenschaftliches Paradigma - insbesondere in den Sozial- und Humanwissenschaften -, welches das Forschungssubjekt weitgehend ignoriert bzw. mit den verschiedensten Methoden auszuschalten versucht, wesentliche Merkmale des Forschungsprozesses bzw. Bedingungskomponenten der Resultate dieses Prozesses außerachtläßt, sodaß alle Ergebnisse unter diesem Ansatz notwendigerweise äußerst fragwürdig bleiben müssen. Die kritische Betrachtung des Forschungssubjekts kann daher einen wesentlichen Hinweis auf die Beschaffenheit eines für die Psychologie angemessenen Erkenntnisparadigmas liefern.

Aufgaben für eine Psychologie des Wissenschaftlers

Eine weitverbreitete Annahme in bezug auf wissenschaftliches Handeln betrifft die Objektivität, d.h.,

  • daß der Wissenschaftler ohne Vorurteil Daten als Daten respektiert und
  • daß er diesen Daten und damit verbundenen technologischen und erkenntnistheoretischen Angelegenheiten relativ emotionslos gegenübersteht.

Der erste Aspekt der Objektivität entspricht einem naiven Realismus bzw. Empirismus - etwa der Nietzeschen "Doktrin der unbefleckten Empfängnis" - und es gibt zahlreiche Belege dafür, daß diese im Bereich der Wissenschaften eher zweifelhaft ist. Wie ULICH (1970, S. 558) schreibt, erweckt ein Teil der experimentellen Literatur in der Psychologie den Eindruck, als ergebe nahezu jedes Experiment(chen) ein eigenes Gesetz. Schon EINSTEIN hat dezidiert festgestellt, daß es die Theorie ist, die entscheidet, was wir beobachten, wobei hier Theorie durchaus mit Vorurteil gleichzusetzen ist. KUHN (1962) gibt in seiner schon an anderer Stelle zitierten Arbeit über wissenschaftliche Revolutionen einen guten historischen Überblick über die zahlreichen "Beobachtungsfehler", die aufgrund der Voreingenommenheiten und Erwartungen zustandegekommen sind.

In der oben erwähnten eigenen Befragung stimmten immerhin 50% der Aussage "Wissenschaftler haben weniger Vorurteile als andere Menschen und sind objektiver" zu, was vermutlich doch für eine gewisse Skepsis gegenüber der Objektivität wissenschaftlichen Handelns spricht.

Gerade Psychologen wissen um Wahrnehmungsfehler Bescheid, wobei in diesem Zusammenhang vor allem auch die Arbeiten zu Versuchsleitereffekten in psychologischen Experimenten zu erwähnen sind (vgl. etwa ROSENTHAL 1964, ROSENTHAL 1966, ROSENTHAL & ROSNOW 1969). Dabei geht es nicht darum, Wissenschaftlern böse Absichten zu unterstellen, vielmehr geht es um in der Regel unbewußte Prozesse, Beobachtungen im Sinne persönlicher Erwartungen zu korrigieren. Daß dieses Problem nicht so leicht lösbar ist, zeigen einige diesbezügliche Untersuchungen.

O'LEARY, KENT & KANOWITZ (1975) wiesen nach, daß beim Einsatz von mehreren Beobachtern nicht unbedingt eine Erhöhung der Objektivität auftritt, sondern daß eher eine wechselseitige Beeinflussung im Sinne eines gemeinsamen und geteilten bias auftritt. Sie resümieren, daß "the present investigation seems to indicate that biased recordings as a function of knowledge of experimental hypothesis combined with experimenter feedback may represent a potential problem for the majority of investigators" (O'LEARY, KENT & KANOWITZ 1975, S. 50). Aus diesen Untersuchungen ließe sich der Schluß ziehen, daß Wissenschaftler eigentlich niemals wissen dürften, was sie untersuchen, vielmehr müßten etwa Datenerhebung, Datenauswertung und Dateninterpretation von verschiedenen Personen durchgeführt werden, die keinerlei Informationen über die Ziele und Zwecke einer Untersuchung haben. Um Objektivität zu erreichen, wäre eine vollkommene Entsubjektivierung notwendig. Im Abschnitt über das Experiment wurde eine solche Strategie schon diskutiert.

Dieser Aspekt der Objektivität, den man auch als Überprüfung der Intersubjektivität bezeichnen kann - sollte vor allem in Sozial- und Humanwissenschaften eine große Rolle spielen, denn hier geht es im Gegensatz zu den physischen Gegenständen der anderen Naturwissenschaften um wesentlich "instabilere" Phänomene. Das müßte sich etwa darin äußern, daß die Überprüfung wissenschaftlicher Resultate in der Psychologie wesentlich häufiger vorkommt als etwa in der Physik. STERLING (1959) stellte bei der Untersuchung von vier psychologischen Zeitschriften (362 Einzelarbeiten) aber fest, daß keine einzige echte Replikation einer früheren Untersuchung darunter war.

Zum Aspekt der Objektivität gehört auch der Aspekt der "Wertfreiheit der Forschung". Die Psychologie - wie andere Sozial- und Humanwissenschaften - erweckt auch heute noch den Eindruck, sich aufgrund des weitgehend vertretenen kritischen Rationalismus von politischen und gesellschaftlich-praktischen Überlegungen zu isolieren. "Die gesellschaftliche Anbindung von Forschung wurde von den Theoretikern durchaus gesehen, blieb aber ohne Konsequenzen für ihre Wissenschaftspraxis, da sie sich auf das Postulat der Neutralität und Wertfreiheit zurückzogen" (HEINZ 1980, S. 450). Besonders der in der Psychologie heute akzeptierte Methodenpluralismus versucht diese Tatsache zu verschleiern, ist aber doch nur ein unzulänglicher Versuch, die paradigmatische Grundhaltung eines naiven Empirismus zu verschleiern, der eine weitgehende Wertfreiheit wissenschaftlichen Handelns "garantiert". In der fächerübergreifenden Untersuchung, von der FISCH & DANIEL (1981, S. 138) berichten, findet sich ein interessanter indirekter Hinweis. Es wurde gefragt, ob sich die Politisierung der Wissenschaften auf die wertfreie Forschung auswirkt. Dabei lagen die Psychologen mit 27% Zustimmung im Vergleich mit allen anderen Fächergruppen mit Abstand an der Spitze, denn Physiker gaben nur etwa zu 10% eine derartige Beeinträchtigung an. Man darf daraus natürlich keine direkte Bewertung der Wertfreiheit der Forschung herauslesen, denn man muß die tatsächlich eher ungünstige Entwicklung in diesem Fach berücksichtigen. Dennoch scheinen Psychologen - stärker als andere Wissenschaftler - an die Möglichkeit einer wertfreien Forschung zu glauben.

In der eigenen Untersuchung stimmten immerhin noch ein Viertel der befragten Studenten der Aussage "Wissenschaftler sind nicht an persönlichem Ruhm interessiert sondern nur an der Wissenschaft" zu, sodaß hier bei einem doch beträchtlichen Teil der Befragten der Verdacht besteht, in der Wissenschaft könnte es auch um persönliches Prestige gehen. Auch dieses Ergebnis läßt sich im Sinne einer bei Wissenschaftlern vermuteten Wertfreiheit interpretieren.

Neben dem ersten eher rationalen Aspekt der Objektivität gibt es noch den zweiten, eher emotionalen und affektiven. Jeder Wissenschaftler ist sicherlich in der Lage, zahlreiche Fälle aufzuführen, in denen Wissenschaftler - wie andere Menschen eben auch - angesichts erfolgreicher und enttäuschender Untersuchungsergebnisse jeweils dementsprechend reagieren. MAHONEY (1979) führt u.a. als ein positives Beispiel das "Heureka Syndrom" für erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit an, und als negatives zahlreiche Depressionen und Selbstmorde bei Wissenschaftlern, die bei ihrer Arbeit gescheitert sind (u.a. SEMMELWEIS, KAMMERER, VELIKOVSKY). Das vermutlich aktuellste Beispiel in der Psychologie ist der Selbstmord KOHLBERGs. KUHN (1962) weist darauf hin, daß bei paradigmatischen Veränderungen in einer Wissenschaft bei manchen Proponenten Frustrationserlebnisse auftreten. Das kann psychologisch sehr gut damit erklärt werden, daß wissenschaftliche Theorien ein Gutteil der Identität des betreffenden Wissenschaftlers ausmachen und daß im Falle des Scheiterns einer solchen Theorie dieses als persönliches Scheitern erlebt wird. BORING (1964, S. 682) schreibt dazu: "A theory which has built up it's authors image of himself has become part of him. To abandon it would be suicidal, or at least an act of self-mutilation". Das könnte durchaus als Erklärung für KOHLBERGs tragischen Selbstmord gelten.

Daß die Emotionalität im wissenschaftlichen Diskurs in der Psychologie schon ein älteres Problem sein dürfte, kann man aus einer Fußnote bei MACH (1903, S. 277) entnehmen, in der er sich über eine Kritik eines "Kollegen" wie folgt äußert: "Dass die privaten Urtheile ebenso massvoll gewesen seien, würde ich auch dann nicht geglaubt haben, wenn mir solche nicht durch kleine Indiscretionen bekannt geworden wären. Ein mehr als geringschätziges Urtheil eines deutschen Kollegen wurde mir auf einem sonderbaren Umwege mitgetheilt - sagen wir ungefähr über die Antipoden - in der unverkennbaren Absicht, mich zu verletzen. Diesen Zweck hat es allerdings verfehlt. Denn es wäre gewiss sehr unbillig, wenn ich das Recht, links liegen zu lassen, was mir unfruchtbar scheint, von dem ich ja selbst Gebrauch mache, nicht auch anderen zugestehen wollte. Ein Bedürfnis aber, Leute, welche anderer Meinung sind, zu insultiren, habe ich allerdings nie gefühlt".

In der oben erwähnten eigenen Befragung stimmten nur 25% der Studenten der Aussage "Wissenschaftler sind bei ihrer Arbeit eher emotionslos und gelassen" zu. Hier könnten die wenigen Erfahrungen der Studenten mit Wissenschaftlern - in der Regel als Lehrende - schon ausgereicht haben, ein realistischeres Bild der scientific community zu entwickeln.

Im Prinzip ist gerade der Falsifikationismus des Kritischen Rationalismus möglicherweise das frustrierendste wissenschaftliche Paradigma, verpflichtet es doch den Wissenschaftler dazu, mit aller Kraft die von ihm aufgestellten Theorien zu widerlegen. In diesem Sinne ist dieser Ansatz möglicherweise jener, der am wenigsten zur mentalen Gesundheit innerhalb der Wissenschaften beiträgt. Beruhigenderweise gibt es aber unter diesem Paradigma zahlreiche - ebenfalls wieder gut psychologisch erklärbare - Mechanismen, die für dieses Problem Lösungen erlauben.

Das Postulat der Objektivität

Dieses Postulat hängt teilweise mit den schon besprochenen emotionalen und affektiven Reaktionen von Wissenschaftlern bei ihrer Arbeit zusammen, wobei gezeigt werden konnte, daß einige Analysen wissenschaftlichen Handelns in hohem Ausmaß dem widersprechen, was man als im allgemeinen als rein rational begründetes Handeln bezeichnen kann. Auf die formale Logik und Rationalität wissenschaftlichen Handelns wurde in dieser Arbeit schon an anderer Stelle eingegangen, wobei vor allem auf die beiden Schlußfiguren der Induktion bzw. Deduktion abgehoben wurde, die beide im vorherrschenden empirisch-nomologischen Paradigma von zentraler Bedeutung sind.

Hier sollen daher jene Aspekte berücksichtigt werden, die sich auf den Problemlösungsprozeß bzw. den Prozeß des Erkenntnisgewinnens als solchen beziehen. Das Postulat der argumentativen Rationalität in diesem Zusammenhang betrifft daher

  • einerseits die Fähigkeit von Wissenschaftlern, zwischen logischer und unlogischer Beweisführung zu unterscheiden, und
  • andererseits die Behauptung, daß Wissenschaftler bei Problemlösungen im allgemeinen logisch stringent argumentieren.

Die betreffenden Statements in der eigenen Untersuchung "Wissenschaftler können schnell zwischen logischen und unlogischen Argumenten unterscheiden" und "Wissenschaftler gehen bei ihren Problemen logisch und systematisch vor" wurden von fast allen bejaht (92% und 98%), d.h., daß dieses Bild vom Wissenschaftler auch von Studenten akzeptiert wird. Vermutlich steckt in diesen beiden Aussagen bloß eine Definition des Wissenschaftlers, das Ergebnis ist daher eine Überprüfung eines sprachanalytischen Zusammenhanges (vgl. den Abschnitt über Analytizität).

MAHONEY & KIMPER (1976) zeigten in einer Studie an Psychologen, Soziologen, Biologen und Physikern, daß etwa die Hälfte der Wissenschaftler den modus tollens als eine unzulässige Form des logischen Schlusses betrachten, während fast alle die Schlußfigur des modus ponens als logisch zulässig akzeptieren. Dieses Ergebnis spiegelt in etwa die auch vom Kritischen Rationalismus akzeptierte Meinung wider, daß strenggenommen nur die Deduktion erkenntnistheoretisch annehmbar ist. Die Autoren dieser Untersuchung zeigen aber auch, daß ein Viertel der Sozialwissenschaftler den klassischen logischen Fehler des "Verneinens der Antecedentien" begehen, indem sie eine falsche Prämisse in der Weise interpretieren, daß sie notwendigerweise eine falsche Konklusion impliziert. Das ist natürlich im Rahmen der allgemeinen wissenschaftlich akzeptierten Logik unsinnig, denn eine falsche Prämisse hat keinen wie immer gearteten Einfluß auf den Wahrheitsgehalt eines Schlusses.

HANSON (1962) und MAHONEY & DEMONBREUN (1977) zeigten in zwei Arbeiten das geringe Ausmaß der Fähigkeit von Wissenschaftlern, Probleme logisch zu lösen. Besonders die zweite Arbeit ist interessant, da in ihr die logischen Fähigkeiten von 30 Wissenschaftlern (darunter auch Psychologen) mit 15 protestantischen Geistlichen verglichen wurden. Die Aufgaben waren dabei einfache mathematische Probleme, die von den Probanden durch die Angabe von möglichen logischen Lösungswegen zu beantworten waren. Es zeigte sich, daß zwischen Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Lösungsqualität bestanden, wobei die einzigen Probanden ohne Fehler Priester waren. In dieser Untersuchung zeigte sich auch, daß Wissenschaftler dazu tendieren, ihre Lösungen - unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch waren - im Durchschnitt wesentlich rascher, d.h.u.a. auch unüberlegter, zu präsentieren als Nichtwissenschaftler (133 gegenüber 37 Sekunden). Darauf ist weiter unten noch zurückzukommen.

Mit der Rationalität des Wissenschaftlers steht auch die für Wissenschaftler oft postulierte überlegene intellektuelle Leistungsfähigkeit zur Diskussion. Dabei geht es weniger darum, nachzuweisen, daß Wissenschaftler anderen Menschen in diesem Leistungsbereich überlegen sind - aber auch das wird von vielen angezweifelt (vgl. MAHONEY 1979, S. 361f) -, vielmehr ist zu fragen, ob die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit - verstanden im Sinne von Erkenntnisproduktion - mit der Intelligenz korreliert. Dazu berichten COLE & COLE (1973), daß in einer Stichprobe von 499 Wissenschaftlern zumindest zwischen der Publikationsleistung (Anzahl der publizierten Arbeiten) und der Intelligenz kein signifikanter Zusammenhang besteht, aber auch zum vielleicht hinsichtlich der Bedeutung der Arbeiten aussagekräftigeren Science Citation Index fand sich kein Zusammenhang. In der eigenen Befragung stimmten nur 13% der Aussage "Wissenschaftler haben im Vergleich zu anderen Akademikern im Durchschnitt einen höheren IQ" zu, was eine äußerst realistische Sichtweise der angehenden Akademiker beweist, aber auch ein gewisses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Ein dem logischen Kriterium der Nichtverifizierbarkeit von Hypothesen im Kritischen Rationalismus widersprechendes empirisches Ergebnis ist auch die Tatsache, daß in wissenschaftlichen Zeitschriften praktisch nur positive Untersuchungsergebnisse publiziert werden, obwohl dieser epistemologische Ansatz ja nahelegen würde, zumindest in gleichem Umfang auch negative Resultate zu veröffentlichen (SMART (1964, zit. nach MAHONEY 1979, S. 355) berichtet für vier psychologische Zeitschriften einen Prozentsatz von unter 10%). Aber dieser Sachverhalt ist jedem wissenschaftlich arbeitenden Psychologen ohnehin vertraut, sodaß darauf nicht näher einzugehen ist.

MEEHL (1967, S. 103) weist auf ein damit zusammenhängendes weiteres Paradoxon hin, daß in der Psychologie - wie in Sozial- und Humanwissenschaften überhaupt und in krassem Gegensatz etwa zur Physik - die Verbesserungen und Verfeinerungen in der experimentellen Situation vor allem dazu dienen, das Scheitern einer Hypothese von vornherein möglichst gering zu halten, anstatt die Annahme unter den schwerstmöglichen Bedingungen zu überprüfen. MAHONEY (1979, S. 356) zitiert eine Notiz von BACON aus dem Jahre 1621 (!), in der eine mögliche Erklärung für diese erwähnten Phänomene zu liegen scheint: "It is the peculiar and perpetual error of the human intellect to be more moved and excited by affirmatives than by negatives… The human understanding, when any proposition has been once laid down … forces everything else to add fresh support and confirmation: and although most cogent and abundant instances may exist to the contrary, yet either does not observe, or despises them, or it gets rid of and rejects them by some distinction, with violent and injurious prejudice rather than sacrifice the authority of its first conclusion". Um das zu erklären, hat die Sozialpsychologie zahlreiche (Mini)Theorien entwickelt, darauf soll hier aber nicht näher eingegangen werden.

Das Postulat der argumentativen Rationalität

Dieses Postulat hängt eng mit der individuellen Persönlichkeit eines Wissenschaftlers zusammen, wobei schon unter den Aspekten der Rationalität und Objektivität wissenschaftlichen Handelns indirekt darauf eingegangen wurde. Es wurde darauf hingewiesen, daß ein ruhiges und bedächtiges Abwägen bei der Lösung von Problemen nicht unbedingt die Sache des Wissenschaftlers ist, der in hohem Ausmaß unter einem innerwissenschaftlichen Leistungsdruck steht, wobei hier nur an das sprichwörtliche "publish or perish" erinnert werden soll. Auch GIORGI (1970) kennzeichnet die wissenschaftliche Psychologie u.a. durch den in ihr vorherrschenden Opportunismus und durch die Hastigkeit, während ruhiges Urteil und genaues Abwägen eher selten sind. Einzelne psychologische Abteilungen stehen einander oft feindlich gegenüber, "not for reasons of personality, but for stereotyped reasons of category and classification, e.g., certain experimentalists and clinicians" (GIORGI 1970, S. 36).

Während BARBER (1961) noch schrieb, daß Wissenschaftler weniger voreingenommen seien als andere Menschen und daß gerade dadurch der wissenschaftliche Fortschritt zu erklären sei, halten dem MASLOW (1966) oder POPPER (1962) entgegen, daß Wissenschaftler vermutlich nicht weniger voreingenommen sind und sich genauso dogmatisch verhalten wie andere Menschen auch. SINGER (1971) meint daher, daß gerade die Persönlichkeit des Wissenschaftlers eingehend untersucht werden müßte, um den Gang der Wissenschaften zu erhellen. Man müßte daher auch vielleicht Fragen stellen nach den individuellen Motivationen der einzelnen Wissenschaftler, warum sie sich für eine bestimmte Wissenschaft entschieden haben bzw. warum sie gerade in diesem oder jenem Spezialgebiet sich engagieren. In der von FISCH (1979, S. 9) angeführten Untersuchung sind sich daher rund ein Viertel der universitär arbeitenden Psychologen nicht sicher, auch den richtigen Beruf gewählt zu haben bzw. auf dem richtigen beruflichen Arbeitsgebiet tätig zu sein. "Weitgehende Einigkeit besteht darüber, daß die berufliche Tätigkeit einen außerordentlich hohen Aufwand an Zeit und Energie erfordert". Immerhin stimmten 84 Prozent dieser Feststellung zu. Insgesamt ergab sich in einem Zeitraum von sieben Jahren aber eine Zunahme des Unzufriedenheitspotentials, wobei nun etwa ein Drittel der Wissenschaftler erwägen, berufliche Alternativen zu suchen. FISCH & DANIEL (1981) berichten von einer fächervergleichenden Untersuchung an den Universitäten in der BRD, wonach bei der Beurteilung der Forschungssituation die Psychologen von allen 27 untersuchten Fächergruppen die pessimistischsten Einstufungen abgaben. Dabei werden als Ursachen wieder die Belastungen durch Lehre, Prüfungen und Selbstverwaltung angeführt.

Dieser Belastungsdruck scheint u.a. auch zu verhindern, daß der in den Wissenschaften immer wieder erhobene Anspruch auf Respektierung der Wahrheit (etwa durch Objektivität den Daten gegenüber) weit weniger ernst genommen wird, als dies in der Öffentlichkeit vielleicht angenommen wird. MAHONEY (1977) sandte in einem Experiment zur Überprüfung der Objektivität von peer reviews eine in bezug auf die Richtung der Ergebnisse (nicht aber in bezug auf die statistische Signifikanz!) und die Interpretation systematisch variierte bzw. manipulierte empirische Untersuchung über Verhaltensmodifikation an 75 einschlägig wissenschaftlich orientierte - hier übersetzbar als vorurteilsbehaftete - Beurteiler des Journal of Applied Behavior. Es zeigte sich, daß die Annahme in hohem Ausmaß davon abhängt, welche Einstellung die Beurteiler zu der jeweiligen Theorie haben. Bestätigten die Ergebnisse die Möglichkeit der Verhaltensmodifikation, so wurden positive Urteile abgegeben, waren sie der Theorie widersprechend, so wurde die Arbeit abgelehnt. Bei halb positiven und halb negativen Resultaten tendierten die Reviewer eher zu einer Ablehnung. In dieser Untersuchung wurde auch die Beurteilerübereinstimmung nach verschiedenen inhaltlichen Merkmalen untersucht, wobei diese nur zwischen r=0.30 und r=-0.07 lag! Diese Ergebnisse kann wohl jeder wissenschaftlich Arbeitende auch aus eigener Erfahrung bestätigen. Daß solche Annahmen und Ablehnungen von wissenschaftlichen Arbeiten aber auch von der Position des Autors in der wissenschaftlichen Hierarchie abhängt, braucht hier nicht näher diskutiert zu werden.

Die in diesem Zusammenhang interessierenden Fragen in der eigenen Untersuchung lauteten: "Wissenschaftler akzeptieren Ergebnisse einer Untersuchung wie sie sind" (42% Zustimmung), "Wissenschaftler akzeptieren Ergebnisse, auch wenn sie ihren Erwartungen widersprechen" (54% Zustimmung), "Wissenschaftler geben bereitwillig zu, wenn sie sich geirrt haben" (4% Zustimmung), "Wissenschaftler interpretieren ihre Ergebnisse vorsichtig" (58% Zustimmung). Diese Ergebnisse sprechen doch teilweise dafür, daß Studenten in den Anfangssemestern von Wissenschaftlern doch eine etwas idealisierte Vorstellung haben, auch wenn praktisch niemand daran glaubt, daß es einem Wissenschaftler leicht fällt, Fehler zuzugeben.

In der Wissenschaftstheorie ist unter der "Duhem-Quine-These" (LAKATOS 1974, S. 178) ein mit dem hier besprochenen Persönlichkeitsmerkmal des Wissenschaftlers eng verwandtes Phänomen bekannt: "Jede Behauptung kann für wahr gehalten werden, was auch kommen mag, wenn wir hinreichend drastische Adjustierungen anderswo im System durchführen.… Umgekehrt ist eben darum keine Behauptung vor einer Revision gesichert". Diese These besagt vereinfacht, daß jede wissenschaftliche Theorie dadurch vor der Widerlegung geschützt werden kann, indem durch interne Revisionen diese an die vorliegenden Daten angepaßt werden kann. Zwar widerspricht dieses Vorgehen prinzipiell dem in der Psychologie weitgehend akzeptierten Paradigma des Falsifikationismus, doch macht die Not einer selbstauferlegten Bürde eben auch erfinderisch. Beobachtet man die Entwicklung einzelner psychologischer Theorien über einen längeren Zeitraum - etwa die klassischen Lern- oder Attributionstheorien - so zeigt sich dieser Rettungsmechanismus ganz deutlich. Vermutlich steckt dahinter der Versuch, das Darwinsche Prinzip der Selektion in eine neue Form zu bringen: "the survival of the fittest fitter".

DÖRNER (1983a, S. 29) berichtet von einem bekannten Psychologen, der bei einer Untersuchung von Denkprozessen zunächst die nicht in das experimentelle Schema passenden Selbstreflexionen der Probanden in den Protokollen mit einem Fragezeichen versah, dann aber bei der Auswertung einfach wegließ. Man darf dieser "Manipulation" natürlich nicht von vornherein eine böse Absicht unterstellen, aber dieses "Weglassen" scheint symptomatisch für wissenschaftliches Handeln zu sein. In diesem Beispiel darf vermutet werden, daß es eher ein Zeichen der Hilflosigkeit darstellt denn ein Zeichen eines Verstoßes gegen die wissenschaftliche Konvention.

FOPPA (1986, S. 154) weist auf die bemerkenswerte Tendenz empirischer Sozialwissenschaftler hin, "die Befunde anderer nicht zu glauben, es sei denn, sie stützten zufälligerweise die eigenen Überzeugungen". Er befürchtet, wenn man aber auf die Formulierung rationaler Kriterien für den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Arbeiten verzichtet, dann kommt es auch in der Wissenschaft dazu, aufgrund individueller Präferenzen zu entscheiden, was man in welchem Rahmen für richtig oder falsch halten will. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß psychologische Wissenschaftler eigentlich doch wissen müßten, wie sich Menschen im Alltag verhalten. Aber es hängt vermutlich mit der schon wiederholt aufgewiesenen Tendenz zusammen, daß Wissenschaftler sich als etwas Besonderes fühlen.

FISCH (1979, S. 8) weist denn auch darauf hin, daß nur 4 Prozent der psychologischen Wissenschaftler es als wichtiges Ziel ihrer Tätigkeiten ansehen, wissenschaftliche Tätigkeit auch in Alltagshandeln umzusetzen. Dabei muß allerdings betont werden, daß diese Angaben sich auf eine offene Frage bezogen. Bei einem herkömmlichen Fragebogen hingegen mit einer geschlossenen Formulierung (vgl. FISCH & DANIEL 1981) glaubten immerhin 89 Prozent, daß die Psychologie Ergebnisse hervorbringt, die nützliche Anwendungen in der Praxis versprechen! Dieser Prozentsatz war bei weitem der höchste in dieser fächerübergreifenden Untersuchung (Durchschnitt 59%, Physiker etwa nur 44%). Dazu schreiben FISCH & DANIEL (1981, S. 139) - wohl nicht ironisch gemeint: "Es gibt - trotz der wahrgenommenen Kapazitätsmängel - keine Anzeichen für eine allgemeine Bereitschaft, die Forschung im Fach Psychologie verkümmern zu lassen".

Das Postulat der Unvoreingenommenheit

Ebenfalls zum engeren Bereich der Persönlichkeit des Wissenschaftlers zählt die Annahme, daß er sich an die formellen und informellen Spielregeln seiner Wissenschaft hält. Naturgemäß gibt es zu diesem weitgehend tabuisierten Bereich nur wenige empirische Arbeiten, wobei meistens individuelle Fälle von Verletzungen der Standespflichten analysiert werden. In der Psychologie ist der Skandal um die Datenmanipulationen von BURT und Mitarbeitern noch in guter Erinnerung. Da es - verständlicherweise - nur wenige und keine systematischen Untersuchungen zu diesem Problembereich gibt, ist man weitgehend auf Spekulationen angewiesen. Soziologen etwa vermuten, daß etwa ein Viertel der Arbeiten in irgendeiner Form manipuliert sind.

Eine Untersuchung von WOLIN (1962, S. 657f) wirft auf die empirisch arbeitenden Psychologen ein bezeichnendes Schlaglicht. Er versuchte von 37 Wissenschaftlern die Rohdaten zu empirischen Arbeiten zu erhalten, um sie einer Nachkontrolle zu unterziehen. "Of these authors, 32 replied. Twenty-one of these reported the data misplaced, lost or inadvertently destroyed. Two of the remaining 11 offered their data on the conditions that they be notified of our intended use of their data, and stated that they have control of anything that we would publich involving this data. … Thus raw data from 9 authors were obtained. From these 9 authors, 11 analyses were obtained. Four of these were not analyzed by us since they were made available several month of our request. Of the remaining 7 studies, 3 involved gross errors. One involved an analysis of variance on transformed data where the transformation was clearly inappropriate. Another analysis contained a gross computational error so that several F ratios near one were reported to be highly significant. The third analysis incorretly reported insignificant results due to the use of an inappropriate error term". Daraus kann natürlich nicht der Schluß gezogen werden, daß fast alle Untersuchungen in irgendeiner Form manipuliert waren, aber es sollte als Hinweis genommen werden, Wissenschaftlern und ihren Ergebnissen wesentlich skeptischer gegenüberzustehen und nicht einfach davon auszugehen, daß ein Wissenschaftler von vornherein ehrenhafter und integrer ist als andere Menschen auch.

In der eigenen Untersuchung kommt auch ein eher skeptisches Bild der Integrität des Wissenschaftlers zum Vorschein, denn 62% konnten der Aussage "Wissenschaftler manipulieren und verbessern ihre Daten nicht" nicht ihre Zustimmung geben. Vermutlich kann aber angenommen werden, daß dabei nicht an eine "echte" Manipulation" von Daten gedacht wurde, sondern eher daran, daß Wissenschaftler ihre Resultate besser darstellen, als sie tatsächlich sind.

Wie FISCH (1977) berichtet, paßt bei der Analyse der von Forschern erhobenen Daten die offensichtlich vorgefundene "Bescheidenheitsstruktur" nicht zum Konkurrenzprinzip und zum Erfolgszwang im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb, sodaß viele Selbsteinschätzungen durch das Auftreten von sozial erwünschten Antworttendenzen beeinflußt sind. Wer wüßte das wohl besser als Psychologen?

MACH (1903, S. 18) geht von einer "Spaltung" des Wissenschaftlers in zwei Persönlichkeiten aus. Er meint, daß Wissenschaftler bei der Verfolgung ihrer Wissenschaft die negativen Seiten weitgehend beiseitelassen (sollten), während sie im alltäglichen praktischen Handeln sich von anderen Menschen nicht unterscheiden. Doch befürchtet er: "Natürlich kann der Gewohnheit auch der Forscher unterliegen. Die kleinen gelehrten Lumpereien, das schlaue Benützen und das perfide Verschweigen, die Schlingbeschwerden bei dem unvermeidlichen Worte der Anerkennung und die schiefe Beleuchtung der fremden Leistung bei dieser Gelegenheit zeigen hinlänglich, dass auch der Forscher den Kampf ums Dasein kämpft, dass auch die Wege der Wissenschaft noch zum Munde führen, und dass der reine Erkenntnistrieb bei unseren heutigen socialen Verhältnissen noch ein Ideal ist". Ich denke, diese Charakterisierung des Wissenschaftsbetriebes ist auch heute noch nicht überholt, obwohl sich die "socialen Verhältnisse" vermutlich doch geändert haben.

Das Postulat der Integrität

Auch dieses Postulat hängt mit der Persönlichkeit des Wissenschaftlers zusammen. Wie alle anderen Postulate stellt auch dieses eher ein Ideal dar. Dazu muß man nicht die zahlreichen Kontroversen innerhalb der Psychologie bemühen, die die Krisendiskussion begleitet haben. Der Konkurrenzdruck und der Blick auf die eigene Karriere verhindern im Bereich der Wissenschaft - wie in anderen Lebensbereichen auch - in den meisten Fällen eine echte Kooperation. So läßt sich in der Psychologie in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Zunahme von gemeinsam oder im Team publizierten Arbeiten finden.

Das Postulat der Kooperativität

Ich habe neun verschiedene Jahrgänge von sechs psychologischen Zeitschriften (Archiv für Psychologie ab 1965, Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie ab 1955, Psychologische Beiträge ab 1955, Schweizerische Zeitschrift für Psychologie ab 1945, Psychologische Rundschau ab 1950, Psychological Review ab 1965) im Abstand von jeweils fünf Jahren in bezug auf die Anzahl der Artikel (nur Originalarbeiten) miteinander verglichen, die von zwei oder mehr Autoren publiziert wurden. In der Grafik 13 sind die jahrgangsmäßigen Prozentsätze der Arbeiten abgebildet, die von jeweils zwei oder mehr Autoren verfaßt wurden (Anmerkung: der Jahrgang 1985 der Psychologischen Beiträge stand mir zum Zeitpunkt der Analyse nicht zur Verfügung).

Die oben geäußerte Vermutung läßt sich anhand dieser groben Analyse insofern bestätigen, als tatsächlich etwa ab dem Jahrgang 1970 eine deutliche Zunahme "kooperativer" Artikel veröffentlicht wurden. Diese Zunahme betrifft auch die Anzahl der Autoren, d.h., daß unter den kooperativen Arbeiten etwa bis 1970 fast nur Artikel von höchstens zwei Autoren zu finden sind, und sich erst ab diesem Zeitpunkt auch solche mit drei und noch mehr Autoren finden. Der Durchschnitt hat sich dabei ab 1975 knapp unter 50 Prozent eingependelt und bleibt seither ziemlich konstant bzw. nimmt etwas ab. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, daß FISCH (1979, S. 8) bei der Befragung von universitären Psychologen zwischen 1970 und 1977 eine tendenzielle Abnahme der Neigung feststellt, in Gruppen zu arbeiten.

Eine Durchsicht der vor 1970 von nur zwei Autoren veröffentlichten Untersuchungen legt allerdings die - hier natürlich nicht eindeutig zu belegende - Schlußfolgerung nahe, daß davor vor allem Dissertationen und Diplomarbeiten vom Betreuer unter Hinzufügung des Namens des Bearbeiters in Artikelform vorliegen. Die einzige englischsprachige Zeitschrift lag dabei von Anfang an (1965) deutlich über den deutschsprachigen, wurde aber dann in etwa "eingeholt". Bemerkenswerterweise liegt beim offiziellen Organ der DGfP auch heute noch die Anzahl der kooperativen Beiträge relativ niedrig.


Grafik 13
Vergleich der Prozentzahlen "kooperativer" Publikationen in ausgewählten Jahrgängen psychologischer Fachzeitschriften

In anderen Zeitschriften mag diese Entwicklung ähnlich verlaufen. Bedeutet das nun generell eine Zunahme der Kooperationsbereitschaft von Wissenschaftlern im Verlauf der letzten Dekaden? In bezug auf das "Publikationsverhalten" von Psychologen mag diese Annahme vorläufig als belegt gelten. Allerdings muß in diesem Zusammenhang auch beachtet werden, daß durch die Erhöhung der Anzahl der Lehrstühle für Psychologie und somit durch immer größere institutionelle Einheiten die Forschungsaufgaben erst auf Gruppen aufteilbar waren.

Aber das ist nur eine "Sicht von außen". Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, werden bei der Beurteilung der individuellen wissenschaftlichen Qualifikation von den Beurteilern ausschließlich nur solche Arbeiten herangezogen, die man auch allein verfaßt hat. Das wird hauptsächlich damit begründet, daß es eben nicht so leicht abschätzbar sei, welcher Anteil jemand an einer kooperativ durchgeführten Untersuchung hat. Es ist daher in bezug auf eine wissenschaftliche Karriere noch immer ratsam, vorwiegend allein zu arbeiten oder zumindest seine eigene (oder auch fremde?) Arbeit dadurch zu belegen, indem man allein unter seinem Namen publiziert und bloß in einer Fußnote oder in einem Nebensatz darauf hinweist, wer die Daten erhoben hat oder anderweitig an der Untersuchung "mitbeteiligt" war. AMELANG & AEVERMANN (1976) weisen darauf hin, daß 14 % der psychologischen Arbeiten auf Dissertationen und 21 % auf Diplomarbeiten beruhen. Aber auch bei den übrigen Arbeiten werden die Daten häufig nicht selbst erhoben, sondern von studentischen Hilfskräften. Die Autoren weisen auch darauf hin, daß diese Prozentsätze deutlich höher liegen als etwa bei Physikern, Medizinern und Biologen. Bedenkt man, daß in vielen Untersuchungen oft nur Psychologiestudenten als Probanden herangezogen werden, dann könnte man von einer permanenten "Inzucht" sprechen. Eine persönliche Erfahrung sei kurz angefügt: bei der Kritik einer meiner Arbeiten wurde explizit darauf bezug genommen, daß die Daten ja "nur" von Studenten erhoben wurden, daher könnten sie nicht zuverlässig sein. Das Kuriose daran war, daß sie von akademischen Psychologen und eingeschulten Sozialarbeitern in der Praxis erhoben worden waren, was sogar in der Arbeit ausdrücklich erwähnt wurde. Offensichtlich liest man die diversen Passagen einer Arbeit gar nicht mehr, sondern man nimmt heute an, daß Forschung ohnehin nur mehr über Studenten und Diplomanden stattfindet.

MAHONEY (1979, S. 362) nennt vor allem das "Wettrennen um die Priorität" und die "Geheimniskrämerei" von Wissenschaftlern als Beispiele dafür, daß es mit der Kooperation unter Wissenschaftlern doch nicht so weit her ist, wie man "von außen" vielleicht vermutet. Wie FISCH (1979, S. 8) feststellt, ist für 34 Prozent der universitären Psychologen das Hauptziel ihrer Tätigkeit, neuartige Entdeckungen zu machen und 27 Prozent nennen als Hauptziel, wissenschaftlich bekannt zu werden und Karriere zu machen.

Ein eigenes Erlebnis mag illustrierend sein: In einem Kolloquium präsentierten zwei Kollegen ein von ihnen in jahrelanger Arbeit entwickeltes Testinstrumentarium. Der Diskussionsleiter, mit dem diese beiden Wissenschaftler vor vielen Jahren einmal ein ähnliches gemeinsames Projekt durchgeführt hatten, wies in seinen einleitenden Worten sofort darauf hin, daß dieser Test eigentlich unter seiner Anleitung entstanden wäre, und daß es sich dabei nur um eine Weiterentwicklung seiner eigenen Ideen handelte. Prompt reagierte einer der Kollegen auch damit, daß er darauf hinwies, daß das aber schon sehr lange zurückliegt und keine Verbindungen mehr bestünden. Auch der Autor dieser Arbeit hat diesbezüglich einschlägige Erfahrungen gemacht, die ein anderer Kollege einmal damit treffend charakterisiert hat, daß in der Wissenschaft die Territorien wie bei Hunden durch "Beinchen heben" markiert und kenntlich gemacht würden, um jedem "Eindringling" deutlich zu zeigen, wer der eigentliche Besitzer dieses Bereiches ist. Ein "Nachspiel" zu dem Erlebnis der Kollegen soll noch erwähnt werden, das zwar thematisch nicht ganz hierhergehört, aber ein bezeichnendes Licht auf das persönliche Verhältnis von Wissenschaftlern wirft: Anläßlich eines Jubiläums des oben genannten Diskussionsleiters überlegten die Kollegen, ob es wohl schicklich und ratsam sei, ihm einen gerade vorbereiteten Artikel zur erwähnten Thematik in einer Fußnote zu widmen. Nach tagelangen Diskussionen entschlossen sie sich schließlich, darauf zu verzichten, denn es stünde die Verlängerung ihres Dienstverhältnisses an, und da könnte eine solche Widmung wohl falsch interpretiert werden. *

Diese Prioritätsproblematik findet sich in der Psychologie aber schon sehr früh, etwa in der Auseinandersetzung darum, wer denn nun den Begriff der "Gestalt", der "Ganzheit" oder des "Systems" als erster verwendet habe und wer der legitime Vertreter dieser Richtung sei. "Seit 1923 setzt ein erbitterter Kampf um Prioritätsansprüche ein. Zu nennen wären hier Jaensch (1923, S. XVIff.) und Krueger (1923/1931), dessen Kongreßvortrag über den Strukturbegriff in der Psychologie auf weiten Strecken der Abweisung gestaltpsychologischer Prioritätsansprüche gewidmet ist. Als Wegbereiter des Ganzheitsprinzips nennen sowohl Jaensch als auch Krueger fast ausschließlich deutsche Forscher. Auffallend ist, daß W. James nicht in die Ahnengalerie eingereiht wird; noch Dilthey (1894/1924) hatte ihn als potentiellen Verbündeten begrüßt. Erst nach 1945 erinnert man sich an James als einen 'großen Vorläufer der Ganzheitspsychologie' (Volkelt, 1963, S. 1f.)" (SCHEERER 1985, S. 19).

Daß manche große Wissenschaftler früher aber vermutlich auch bescheidener waren, kann man aus zahlreichen Anmerkungen in Vorwörtern entnehmen. Als ein Beispiel sei etwa MACH (1903, S. VI) zitiert: "Wenn ich unter solchen Umständen den Werth meiner Einzelarbeit nur gering anschlagen kann, so darf ich dafür annehmen, dass ich nicht bloß ein subjektives Phantom verfolgt, sondern zur Erreichung eines allgemeiner angestrebten Zieles beigetragen habe. Prioritätsansprüche zu erheben in Bezug auf Gedanken, deren leitende Fäden bis in die antike Zeit zurückreichen, hätte natürlich keinen guten Sinn".

Auch heute noch finden sich in wissenschaftlichen Publikationen in den Danksagungen im Vorwort - diese wären m.E. ein analysierenswertes Material für psychologische Untersuchungen - entsprechende Unterordnungsgesten und Bescheidenheitsrituale, die dann meist darin gipfeln, daß auch die Schreibkraft oder einige Diskussionen mit Studenten sehr hilfreich gewesen seien. In einigen englischsprachigen Zeitschriften ist es üblich geworden, auch den Reviewern für ihre Kritik zu danken. Wenn man allerdings den Einreichungstermin mit dem Publikationstermin vergleicht, dann liegen vermutlich eher zahlreiche Verfluchungen dieser Kritiker in diesem Zeitraum, denn sie verlangen meist nur zusätzliche Arbeitszeit, die man doch besser mit neuen Publikationsvorbereitungen nützen möchte.

Interdisziplinäre Forschung ist - wie vermutlich jeder Wissenschaftler bestätigen kann - ein äußerst schwieriges Unterfangen. Nach meinen eigenen Beobachtungen sind es allerdings dabei vor allem Sozialwissenschaftler, die sich gegen solche Bemühungen "sträuben". Das scheint insofern paradox, als sie doch am ehesten wissen müßten, daß vielfältige wissenschaftliche Aufgaben in Gruppenarbeit leichter zu bewerkstelligen sind. Vermutlich wissen sie aber auch von vornherein - vermutlich mehr als andere Wissenschaftler, daß es in Gruppen zahlreiche Probleme geben kann. Möglicherweise ist es auch das Wissen um einige der hier angeführten Persönlichkeitsmerkmale, das die Kooperationsbereitschaft eher niedrig hält.

In der eigenen Untersuchung stimmten noch 67% der Aussage "Wissenschaftler teilen ihre Ergebnisse mit anderen und sind am Gedankenaustausch interessiert" zu, während das Statement "Wissenschaftler sind im allgemeinen kooperativ und passen sich an" nur mehr 38% Zustimmung fand. Die erste Aussage kann eigentlich als Definition der scientific community verstanden werden, denn wie anders könnte sich eine Wissenschaft entwickeln, wenn nicht durch den Informationsaustausch zwischen den Beteiligten. Die Skepsis der Studenten bezüglich der zweiten Frage nach der Kooperativität wird im Statement "Wissenschaftler haben keine Geheimnisse voreinander" durch nur 4% Zustimmungen verstärkt. Das ist vermutlich aber kein Einblick in die Realität der scientific community sondern eher die Beurteilung eines allgemein menschlichen Zuges.

Die Ambivalenz zwischen Zusammenarbeit und Selbständigkeit kommt auch in dem von FISCH (1979, S. 7) präsentierten Polaritätsprofil des Psychologen zum Ausdruck, nachdem sich bezüglich der Wunschvorstellungen der bevorzugten Tätigkeiten die Psychologen zwar mehr Forschung in der Kooperation wünschen, aber auch gleichzeitig mehr selbständig und allein denn unter Anleitung oder in Gruppen arbeiten möchten.

Kleiner Exkurs: Vergleich von 6 psychologischen Zeitschriften

Wie zu Beginn dieser kurzen Analyse erwähnt, muß eine Psychologie des Wissenschaftlers noch geschrieben werden. Es hat sich gezeigt, daß hier für Psychologen ein großes Betätigungsfeld offen steht, wobei die Beschäftigung mit sich selber - also eine Psychologie des Psychologen - auch insofern interessant sein müßte, da der Untersuchungsgegenstand relativ leicht verfügbar ist. Wie oben erwähnt, könnten auch zahlreiche schon vorliegenden Materialien psychologisch analysiert werden, es müßten also nicht aufwendige Erhebungsmethoden angewendet werden.

SCHNEEWIND (1977, S. 24) meint dazu: "Sofern die Psychologie als Einzelwissenschaft Gegenstand wissenschaftspsychologischer Überlegungen ist, ist dabei besonders delikat, daß die Psychologie mit ihren eigenen Mitteln sich auf sich selbst bezieht". Diese Feststellung ist insoferne kurios, als Menschen bei ihrer Selbstreflexion eigentlich dasselbe tun, nämlich das ihnen zur Verfügung stehende intellektuelle - und emotionale! - Instrumentarium auf sich selber anwenden. Wenn man dabei bedenkt, daß die Psychologie dies von ihren Forschungsobjekten wissen müßte, so fragt man sich, welche Distanz die Psychologie eigentlich zu ihrem eigenen Handeln bereits erreicht hat, wenn sie die Auseinandersetzung mit sich selber als delikat bezeichnet! SCHNEEWIND (1977, S. 24f) schließt dann mit einer Pointe: "Dadurch, daß die Psychologie selbst zum Gegenstand der Wissenschaftswissenschaft wird, profitiert sie aber zugleich auch für das Fortschreiten ihrer eigenen Erkenntnisbemühungen". Da nun die Psychologie als wesentlicher Bestandteil der Wissenschaftswissenschaft gelten kann, so wird hier eigentlich nur das gesagt, was sie ohnehin für ihre eigene Tätigkeit in Anspruch nimmt, nämlich zu Erkenntnis zu gelangen. Oder ist das vielleicht nicht so selbstverständlich, wie man vielleicht gemeinhin annimmt?

Wenn man davon ausgeht - und nach den bisherigen Erfahrungen ist diese Annahme durchaus gerechtfertigt -, daß Wissenschaftler weitgehend dieselben Verhaltensmuster zeigen wie andere Menschen auch, dann könnte eine Untersuchung des Wissenschaftlers auch allgemeine Aufschlüsse über das Handeln der Menschen liefern. Wenn SMEDSLUND (1987, S. 167) zum Verhältnis des Psychologen zu seinem Untersuchungsobjekt schreibt, "daß der Psychologe die von ihm untersuchten Mitmenschen gleichsam als Berufskollegen anzusehen hat", so könnte man das auch in der Weise spezifizieren, daß auch die Mitglieder der scientific community als Mitmenschen anzusehen sind. Dagegen wird sicherlich von einigen unbelehrbaren Empirizisten der Einwand erhoben, daß es unter der Perspektive der Objektivität äußerst problematisch ist, wenn das Untersuchungsobjekt einem so nahe steht. Unter dem in dieser Arbeit präsentierten Paradigma ist eine solche Analyse insofern gerechtfertigt, da sie erkenntnistheoretisch betrachtet ohnehin die einzig mögliche ist!

MAHONEY (1979, S. 366f) faßt dieses Dilemma zusammen: "… science involves a collection of human conjectures which are communicated in an elaborate social system, and which are ultimately accepted or rejected, not on the basis of formal logical criteria, but rather in accord with the psychological and sociological principles which circumscribe our behavior as humans. Our continued neglect of the human factor in science may well be considered one of the most costly errors in the history of empiricism".

Für das Betreiben einer psychologischen Wissenschaft ergeben sich aus dem hier gesagten insofern bedeutsame Konsequenzen, als aus einer noch zu schreibenden Psychologie des Wissenschaftlers folgende mögliche Folgerungen gezogen werden könnten:

  • Der Unterschied zwischen wissenschaftlichem und alltäglichem Handeln ist gar nicht so groß, wie er ursprünglich behauptet wird (vgl. etwa bei THOMMEN 1985)
  • Die Behauptung, objektiv und ausschließlich rational Wissenschaft betreiben zu können, ist nach unserem derzeitigen Wissensstand nicht nur Selbstüberschätzung sondern vermutlich auch ein Ding der Unmöglichkeit
  • Die Psychologie ist dazu angehalten, ein Paradigma zu entwickeln, das zumindest in bezug auf die Kernannahmen auch erfüllbar ist und nicht bloß ein utopisches Ideal darstellt.

Wie DÖRNER (1983) ausführt, täte es der Psychologie ganz gut, die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch auf das eigene Handeln anzuwenden. Wenn man wissenschaftliches Handeln u.a. auch als problemlösendes Denken betrachtet, dann zeigen sich auch bei Psychologen ähnliche Fluchttendenzen bei Kontrollverlust, wie sie etwa in der Theorie der Reaktanz (BREHM) oder der erlernten Hilflosigkeit (SELIGMAN) postuliert werden. Zahlreiche typisch wissenschaftliche Handlungen zielen letztlich gar nicht mehr auf die problemlösende Bewältigung der Aufgaben, "sondern beziehen sich in autoregulativer Weise auf die Sicherung oder den Wiedergewinn der subjektiven Kompetenz. Das Gefühl der Bedrohung der Kompetenz resultiert z.B. in Fluchttendenzen, die sich im Denken nicht in realem Weglaufen, sondern in komplizierteren Absetzbewegungen äußern. Es gibt viele Denkfiguren, die aus Flucht vor der Einsicht in die eigene Inkompetenz resultieren" (DÖRNER 1983, S. 33). Für die wissenschaftliche Psychologie nennt der Autor einige Beispiele: Da man der eigenen wissenschaftlichen Inkompetenz nicht mehr einsichtig wird, wenn man sich auf einen kleinen, gut abgesicherten Teilbereich der Realität zurückzieht, so führt das im wissenschaftlichen Bereich zur "liebevollen Pflege des Zettelkastens und des Karteisystems", zur "monströsen Ausuferung der Literatursuche vor dem Beginn einer Arbeit", zur Aufstellung von ungeheuer detaillierten aber niemals ausgeführten Arbeitsplänen, das "Erstellen riesenhafter, von niemandem verwendeten Programmbibliotheken für Computer". Gerade der Computer ist längst kein Werkzeug mehr, vielmehr kann man aufgrund der damit erreichten Problemlösungen eine hohes Maß an Selbstwertstützung erreichen.

Aber auch die Verbalisierung stellt ein wichtiges Mittel bei der Bewältigung wissenschaftlicher Inkompetenz dar. "Nach einer völlig fehlgegangenen Planung von Maßnahmen in einem komplexen Planspiel fällt die Äußerung: 'Ich habe eben die vernetzte Dynamik antagonistischer Partialzielhierarchien nicht genügend analysiert und die exponentiellen Trends völlig unterschätzt!' So etwas verleiht doch wenigsten im Nachhinein das angenehme Gefühl, der eigenen Unfähigkeit als kompetenter Kritiker gegenüberzustehen; ein Machtgefühl sekundärer, dennoch aber sehr befriedigender Art" (DÖRNER 1983, S. 33f).

All diese Formen der Flucht können als horizontale Absetzbewegungen interpretiert werden, die darin bestehen, "daß sich das denkende Individuum in eine halbwegs sicher beherrschte Ecke des Problemraumes zurückzieht, um dort irrelevante Partialprobleme zu lösen, die es zwar nicht lösen braucht, aber lösen kann" (DÖRNER 1983, S. 34). Aber es läßt sich auch eine vertikale Absetzbewegung entdecken: "Diese besteht darin, daß das Denken und Problemlösen aus dem Bereich der widerspenstigen Realität gänzlich herausverlagert wird und statt dessen nunmehr nur noch im geistigen Abbild der Realität stattfindet. Man denkt sich die Sachen so, wie sie sein sollen, und enthebt sich damit der Mühe, damit fertig zu werden, daß die Realität oft eben nicht so ist, wie man sich das denkt" (DÖRNER 1983, S. 34). Unter dem Stichwort des Inversionsprinzips ist schon oben auf solche "Vertauschungen" eingegangen worden. Auch das schon an anderer Stelle dieser Arbeit dargelegte Fluchtschema der exzessiven Beschäftigung mit Wissenschaftstheorie und Methodologie - nicht nur in neuerer Zeit - läßt sich hier als solche vertikale Fluchtbewegung anführen.

DÖRNER (1983, S. 34f) nennt des weiteren noch den Angriff als Primitivreaktion, die zum Zwecke der Kompetenzsicherung auch von Wissenschaftlern eingeschlagen wird, aber eine eingehende Erörterung dieser Problematik kann hier wohl unterbleiben, denn welcher wissenschaftlich tätige Psychologie könnte nicht zahlreiche persönliche Erfahrungen zu diesem Aspekt beitragen, die zumindest eine umfangreiche Monographie ergeben würden, wenn, ja wenn man es sich leisten könnte, sie zu publizieren.

HERZOG (1984) hat bei seiner Forderung nach einer reflexiven Psychologie gemeint, daß gerade die Psychologie nicht umhin kann, die durch die wissenschaftliche Gemeinschaft selbst geschaffenen Bedingungen mit zu untersuchen, denn eine ganzheitliche Sicht des Menschen bedingt auch eine ganzheitliche Sicht des Wissenschaftlers. Wie etwa ROGERS (1974) ausführt, ist es ja immer der Forscher, der die Auswahl des Gegenstandes besorgt und daher ist die Frage nach den Motiven und Bedürfnissen, die sein wissenschaftliches Handeln bestimmen, legitim und aufklärungsbedürftig. Meines Erachtens sind diese Fragen nach der Persönlichkeit des Forschers noch vorrangig vor den Fragen nach den weiteren Lebenszusammenhängen zu stellen und zu beantworten, obwohl sicherlich das LEWINsche Postulat nach der Einheit von Handeln und Forschen für eine sich sozialwissenschaftlich orientierende Psychologie wichtig und diskussionswert ist. Es ist überhaupt die Frage, ob diese Probleme in der Praxis getrennt behandelt werden können. Nach dem Paradigma dieser Arbeit ergibt sich aber eine Priorität der individualen Reflexion, während die Reflexion der sozialen Beziehungen erst den zweiten Schritt darstellen kann bzw. vermutlich auch muß. Der Leser mag sich an dieser Stelle vielleicht die zahlreichen in Sprichwörtern und Redensarten festgehaltenen Weisheiten vor Augen führen, die diesen Sachverhalt illustrieren können.

V. USLAR (1987) betont, daß auch eine historische Betrachtung der wissenschaftlichen Psychologie wesentlich sein kann, denn diese kann durchaus neue Perspektiven der Forschung eröffnen, indem sie neue Interpretationen der Phänomene ermöglicht. Er fordert deshalb auch eine anthropologische Psychologie, die sich mit den vielfältigen Konzepten des Psychischen in der Geschichte des abendländischen Denkens beschäftigt, denn diese wirken in äußerst verwickelter Art und Weise auf unsere theoretischen Systeme und Konzepte der Psychologie ein. Diese Arbeit versucht deshalb auch, zumindest einen kleinen Teil dieser Bezüge aufzuzeigen, wobei hier vor allem die scheinbare Selbstverständlichkeit unseres Paradigmas hinterfragt wird, das u.a. dadurch gekennzeichnet ist, daß eine Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften ungefragt akzeptiert wird. "Seele ist dann nicht nur die äusserlich feststellbare, messbare Wirklichkeit des Verhaltens, sondern sie ist eher die Wirklichkeit unseres leiblichen, zeitlichen und gemeinsamen Auf-der-Welt-seins, die Präsenz unseres Existierens als Leib in dieser Welt und für einander. Wenn man den Bezügen einer solchen Betrachtungsweise nachgeht, erschliessen sich viele klassische Gebiete der Psychologie in einer sehr veränderten Weise" (V. USLAR 1987, S. 71).

Wie ich persönlich aber weiß, setzt man sich bei einer solchen historisch-reflexiven Perspektive unweigerlich dem bekannten Vorwurf aus, daß man nur den alten Wein in neue Schläuche fülle (wenn der andere überhaupt diese schöne, vornehme Metapher verwendet!). Und das ist in der Regel als Abwertung gemeint, wobei diese "Waffe" der "Alten" wohl das am häufigsten ausgeübte "Fluchtschema" vor dem "Neuen" sein dürfte. "Es ist alles schon einmal dagewesen …" lautet auf "wissenschaftlich": "Hat nicht schon der berühmte *** vor ** Jahren gesagt, daß …" oder häufiger direkter "Ich habe schon vor ** Jahren gemeint, …".

Die noch zu schreibende Psychologie des Wissenschaftlers

 

 

aus:
Stangl, Werner (1989).
Das neue Paradigma der Psychologie.
Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
ISBN: 3-528-06342-4

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