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Lew S. Wygotski

 

Lew S. Wygotski wurde am 5.11.1896 in Orshe, im jetzigen Weißrussland, als zweites von acht Kindern in einer jüdischen Familie geboren. Nach einem Umzug verbrachte er in Gomel seine Kindheit, Schulzeit und Jugend. Lews Familie war sehr gut gebildet, der Vater war Manager der Gomel Bank, intelligent und angesehen und sprach mehrere Sprachen. Er war auch Begründer und aktives Mitglied der "Society of Education" in Gomel. In ihm hatte Wygotski einen strengen und liebevollen Vater. Auch die Mutter Cecilia hatte eine gute Ausbildung und den Beruf der Lehrerin erlernt, den sie allerdings nicht ausübte, um sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Die gemeinsamen Interessen der Familie betrafen die Bereiche Geschichte, Literatur, Theater und Kunst.

Beim abendlichen Zusammensein diskutierten sie darüber und lasen sich klassische Novellen und Neuveröffentlichungen vor. Damit das Geld für Bücher und Theaterkarten für die ganze Familie reichte, führte sie ansonsten ein bescheidenes Leben. Lew war ein sehr sozial eingestellter Junge, hatte viele Freunde und vielfältige Interessen. Eigenständig lernte er Esperanto, die Welthilfssprache

Zunächst erhielt er Hausunterricht und konnte so das Examen für die ersten fünf Jahre der Grundschule erhalten, danach besuchte er das Gymnasium. Er war in allen Fächern ein sehr guter Schüler, seine Lehrer lobten seine Begabung und seinen Lerneifer. Das meiste Interesse zeigte er für Literatur und Philosophie. 1913 schloss er die Schule - im vorrevolutionären Russland bereitete sie auf die Universität vor - mit einer Goldmedaille ab.

Nun ging es um die schwierige Frage der Studienwahl: Literatur führte zum Beruf des Lehrers hin - eine Karriere in öffentlichen Schulen war damals für Juden nicht erlaubt. Seine Eltern empfahlen ihm Medizin, da er als Arzt auch außerhalb des "Pale" (Gebiet, in dem Juden damals wohnen mussten) leben könnte. Nach einem ihn nicht befriedigendem einmonatigen Medizinstudium an der Universität Moskau wechselte er zu Jura, was auch die Unabhängigkeit von dem "Pale" bedeutete.

Seine wahren Interessen lagen allerdings weiterhin bei Literatur, Kunstkritik, Philosophie und philosophischen Kunstanalysen, weshalb er auch Vorlesungen dieser Fächer besuchte. 1914 schrieb er sich zusätzlich bei der historisch - philosophischen Abteilung der Shanavsky Universität ein. Diese war zur Zarenzeit eine progressive Institution, die unterschiedslos alle Studenten aufnahm, aber trotz hohen Standards und der Besetzung mit führenden Wissenschaftlern keine offizielle Anerkennung ihrer Abschlüsse erfuhr.

Moskau war für Wygotski eine fruchtbare Zeit: Er begann sich für Psychologie zu interessieren und sie zu studieren und besuchte mit seiner ebenfalls studierenden Schwester die Hamletvorstellungen mit Kachalov in der Hauptrolle, welcher ihn zu verschiedenen Abhandlungen über die Inszenierungen inspirierte. 1917 schloss er beide Universitäten ab und kehrte im Dezember in das von den Deutschen besetzte Gomel zurück, in dem es nun keine Aussicht auf Arbeit gab. In diesem Winter pflegte er zwei seiner Brüder, die an Tuberkulose bzw. Typhus erkrankten und nach wenigen Wochen verstarben.

Als im Januar 1919 die Herrschaft in Gomel wieder an die Russen überging, konnte er nun Literatur, Ästhetik, Philosophie und Russisch in einer neuen Berufsschule und danach Psychologie in einem örtlichen "Lehrer - College" unterrichten. Bald hielt er eine offizielle Position beim Vorstand des "Art and Aesthetic Education of the town Department of Education" in Gomel inne. Mit großem Enthusiasmus widmete er sich weiterhin der Literatur und dem Theater, was zu etlichen Veröffentlichungen von Literaturkritiken und Rezensionen führte. Wöchentlich führte er in seinem Haus eine Kritikerrunde durch, gab nun auch pädagogische Literatur heraus und kümmerte sich um die Organisation des örtlichen Theaters.

Die außerordentliche und vielfältige Begabung Wygotskis zeigte sich auch, als er bei der Ausschreibung einer Zeitung gewann, die den besten Lehrer der Region suchte. Seine Lehrfähigkeiten wurden folgendermaßen beschrieben: "showed pedagogical tact, eagerness, and erudition in teaching" (Vygotskaya, 1995a) (er zeigte pädagogisches Geschick, Eifer und Gelehrsamkeit beim Unterrichten; K. H.).

Ziemlich überraschend durfte er 1924 beim "Second all-Union Psychoneurological Congress" in St. Petersburg (damals Leningrad) drei von seinen psychologischen Artikeln vorstellen. Die Teilnehmer - die meisten waren bekannte und etablierte Wissenschaftler - waren erstaunt von der klaren, logischen und rhetorisch durchdachten Rede Wygotskis, mit der er ein "heißes Thema" vortrug: Methoden der reflexologischen und psychologischen Untersuchung. A. R. Lurija erzählte als Anekdote, dass Wygotski als Skript nur ein weißes Blatt Papier bei sich trug. Er beeindruckte derart, dass er Mitglied des "Moscow Institut of Experimental Psychology" werden durfte. Dort arbeitete er auf ein Examen hin, was ihn zur Position des "senior scientific research associate" berechtigte.

Von nun an wurde Forschung zu seinem Lebensinhalt. A. R. Lurija, A. Leontjew und er arbeiteten zusammen und wurden als Troika bekannt. In ihren Arbeiten hielten sie eine kritische Rückschau auf die Psychologie der Zeit. Im Sommer 1924 nahm er die Arbeit im "center for physically handicapped and mentally retarded children" auf und schrieb Abhandlungen darüber. Als er 1925 an einer internationalen Konferenz über die Erziehung taubstummer Kinder in London teilnahm, nutzte er die Gelegenheit und besuchte Frankreich, Holland, Deutschland und deren "special schools" (Sonderschulen; K. H.) und "psychological laboratories" (wahrscheinlich sind psychologische Institute gemeint, K. H.).

Bei der Rückkehr im Herbst 1925 erkrankte er an Tuberkulose und konnte deswegen seine Dissertation "Psychology of Art" nicht öffentlich verteidigen. Trotzdem wurde ihm die Lehrberechtigung für Hochschulen ("higher education") zuerkannt. Die Krankheit nahm einen schweren Verlauf, Wygotski war zeitweise sterbenskrank und wollte deshalb in fieberhafter Arbeit seine Schrift "Historical meaning of the crisis in psychology" ("Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung") beenden.

Nach seiner Genesung unterrichtete er Psychologie in verschiedenen medizinisch-psychologischen und pädagogischen Institutionen. 1926 veröffentlichte er "Pedagogical Psychology", arbeitete an "Thougt and Speech" ("Denken und Sprechen"), "History of the Development of Higher psychological Functions", "Problems of Mental Retardation" und anderen Schriften. Außerdem gab er Bücher und Manuskripte russischer und ausländischer Wissenschaftler heraus, schrieb Einführungen, Vorworte und kritische Kommentare.

Weitere psychologische Forschungen strengte er vor allem über Probleme normaler und "abnormaler" (behinderter) Kinder an, was ihn noch zu einer Ausbildung in Medizin ermunterte. 1926 gründete er ein Labor, um die Psychologie "abnormaler" Kinder zu studieren; 1929 wurde dieses zum "Experimental Institute of Defectology" ernannt, dessen Leiter er bis zu seinem Tod blieb. Während dieser Zeit führte er Untersuchungen mit Kindern durch und diskutierte die Ergebnisse öffentlich mit Lehrern, Ärzten, Psychologen und Studenten. Wygotski erörterte detaillierte Analysen von jedem diagnostizierten Kind, erklärte die Schwierigkeiten in der Entwicklung des Kindes, plante pädagogische Hilfen und zeigte praktische Vorschläge für Eltern und Lehrer auf. Beobachter waren erstaunt, wie gut und persönlich der Psychologe mit den Kindern umging und eine Vertrauensatmosphäre schaffen konnte.

Er erschuf die "defectological services" ("sonderpädagogische Hilfen", K. H.) in Russland, in denen er seine theoretischen Forschungen sehr gut mit der Praxis verbinden konnte. In seinem Schaffen wurde der Psychologe durch seine Krankheit, die Tuberkulose, eingeschränkt: Seit 1920 hatte er immer wieder Rückfälle. Um das Semester für seine Studenten beenden zu können, weigerte er sich trotz Anraten seines Arztes im Frühjahr 1934 ins Krankenhaus zu gehen.

Er verstarb am 10.06.1934, nachdem er todkrank im Mai von der Universität heimgebracht wurde.

In den 37 Jahren seines Lebens hinterließ er 270 wissenschaftliche Arbeiten, die zum Teil erst Jahrzehnte später oder gar nicht veröffentlicht wurden (vgl. Vygotskaya 1995a). Die damalige Herrschaft des Stalinismus verhinderte die Ausbreitung seiner Werke, was eine Ironie der Geschichte ist: Wygotski wurde von den Schriften Marx` beeinflusst, dessen Gedanken einst auch der philosophische Hintergrund und die Begründung zur Oktoberrevolution und Machtübernahme der Bolschewiki waren. Der Kalte Krieg trug ein weiteres dazu bei, dass Wygotski in der westlichen Welt wenig bekannt wurde.    

 

Quelle:
http://wrzx05.rz.uni-wuerzburg.de/sopaed1/breitenbach/entwicklungspsychologie/Wygotzky.pdf (02-12-31)

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