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Entwicklungsaufgaben als Initiationsrituale

Flammer (1991) zieht eine Parallele von Entwicklungsaufgaben mit Initiationsritualen beim Übergang von der Kindheit zum Jugendalter: "Was uns aus ethnologischen Berichten über Initiationsritualen für Jugendliche auf der Schwelle des Eintritts in den Erwachsenenstand bekannt ist, finden wir in unserer sog. zivilisierten okzidentalen Welt nicht mehr oder nur noch in verschämten Anklängen (z.B. Brunnentaufe der Schriftsetzer, der Fuchsen- und Burschentaufen der Studentenverbindungen, der Konfirmationsfeste, der Jungbürgerfeiern etc.). Diese als Bräuche erhaltenen Rituale haben ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung verloren. (…) Ich verstehe darunter gesamtgesellschaftlich getragene Verfahren, die die einmalige Zulassung zu gesellschaftlichen Status und Funktionen regeln, … (…) Die Gründe dafür, dass der Eintritt in den Erwachsenenstatus bei uns nicht auf diese Weise definitiv geregelt werden kann, sind vielfältig und liegen weitgehend auf der Hand: Weder Erwachsenen- noch Jugend- noch Kindheitsstatus sind bei uns präzis definiert, Erwachsene haben ein Leben lang zu lernen, und bereits Jugendliche und Kinder werden beträchtlichen Gefahren und existentiellen Entscheidungen ausgesetzt (Drogen, AIDS etc.); unsere Informationsgesellschaft ist begierig darauf, sämtliche Geheimnisse und Tabus zu lüften, transparent zu machen (Postman, 1982, dt. 1983); wir leben sowohl in einer sog. pluralistischen Gesellschaft (oder universalistischen Gesellschaft; vgl. Eisenstadt, 1956) als auch in multiplen Lebensräumen, in denen wir sehr unterschiedliche Rollen und Aufgaben wahrnehmen."

Flammer meint, daß die Bedeutung des Entwicklungsaufgabenkonzepts von den Entwicklungspsychologen bisher noch nicht in der Parallele zu Initiationsritualen gesehen wurde, sondern mehr in der theoriegeschichtlichen Emanzipation aus den Stufenmodellen. Diese Auffassung könne nämlich besser mit dem Faktum umgehen, daß die individuelle Entwicklung von der durchschnittlichen stark abweichen kann. Das Konzept der Entwicklungsaufgabe suggeriere aber , daß es jemanden gibt, der oder die die Aufgabe stellt und ihre Erfüllung fordert, was aber nur in den wenigsten Fällen zutreffe.

Flammer betont, daß die Erfüllung von Entwicklungsaufgaben nicht identisch mit Initiationsritualen sei, aber in der modernen Industriegesellschaft eben solche Funktionen erfülle, die in traditionellen Gesellschaften Initiationsritualen vorbehalten seien. Zudem weisen sie Züge von Ritualen auf, nämlich Öffentlichkeit, zeitliche Dauer, persönliche Anstrengung bzw. Mut, "sichtbare" Kennzeichnung und der Vollzug solcher Aufgabenbewältigungen oft in Rituale im weiteren Sinn eingebaut, z.B. beim Umgang zwischen den Geschlechtern, Regelhaftigkeiten der Berufsschulbesuchs etc.

"Wer eine Aufgabe stellt, begnügt sich im allgemeinen nicht mit der bloßen Aufgaben-Stellung, sondern versucht, ihre Lösung oder Erfüllung auch durchzusetzen, ergreift bei Nichteintreten auf die Aufgabe Maßnahmen, reagiert auf die Erfüllung der Aufgabe mit Befriedigung und sanktioniert deren Nichterfüllung mit Bestrafung oder Ächtung. (…) Moderne Industriegesellschaften arrangieren und überwachen die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben mit gleichem Interesse, wie traditionelle Gesellschaften die Durchführung von Initiationsritualen arrangieren und überwachen.

Entwicklungsaufgaben können normativ oder non-normativ sein (Flammer & Avramakis, 1989).

Non-normative Entwicklungsaufgaben werden typischerweise durch einzelne Individuen oder Kleingruppen gestellt, z.B. durch die Mutter, die aus ihrem Sohn einen Schachspieler machen möchte. Normative Entwicklungsaufgaben werden hingegen selten durch bestimmte Personen ausdrücklich formuliert, sondern sind sozusagen implizit gestellt, d.h. typischerweise repräsentiert in Institutionen wie Schulen, Aufnahmeprüfungen, Berufsfachprüfungen, Pensionsaltersregelungen und Pensionskassen, oder in Zeremoniellen der Zivilstandsänderungen, militärischer Beförderungen, religiöser Weihen. Wie läßt sich der Aufgabencharakter normativer Entwicklungsuafgaben dennoch nachweisen? Da Aufgabensteller die Durchsetzung einer Aufgabenlösung im allgemeinen forcieren oder doch anstreben und ihre Erreichung oder Nichterreichung quittieren, schlage ich vor, die Reaktionen Außenstehender auf die Erfüllung resp. Nichterfüllung angeblicher Entwicklungsaufgaben als Abgrenzungskriterien zu verwenden.

Natürlich gelten für die Gegenüberstellung zu den Initiationsritualen nur die sozial gestellten Entwicklungsaufgaben und auch davon nur die normativen. Nun ist aber gerade diese Unterscheidung nicht leicht durchzuführen, jedenfalls nicht a priori, weil die Aufgabenstellung meist nicht explizit ist. Im Sinne einer methodischen Massnahme schlage ich darum vor, die soziale Basis der Entwicklungsaufgaben daran zu messen, ob und wie das soziale Umfeld auf Erfüllung, Nichterfüllung und verspätete Erfüllung der Entwicklungsaufgaben reagiert. Wenn nämlich keine soziale Reaktionen darauf auszumachen sind, kann es keinen Sinn ergeben, die Aufgabenstellung sozial zu verstehen (Flammer & Avramakis 1989)."
(Flammer 1991; Hervorhebungen und Strukturierungen von mir, W.S.)

Siehe auch
Studien zur Entwicklung im Jugendalter
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter



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