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Moralische Entwicklung - Dilemmata

Die Anselm-Geschichte

Anselm S. lebt zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem neuen Haus am Stadtrand, das sie erst vor drei Jahren bezogen haben. Er ist Chemiker in leitender Position bei einer Lebensmittelfirma, die ihre Zentrale direkt am Ort hat.

Er ist ein Mann mit recht konservativen Ansichten und daher auch stolz darauf, daß seine Frau jetzt nicht mehr mitarbeiten muß. "Das schaffe ich schon alleine!" ist eine seiner Standardredewendungen. Anselms Frau ist mit diesem Zustand ebenfalls sehr zufrieden. Ihr macht es Spaß, sich um Haus und Garten zu kümmern. Außerdem hat sie so genug Zeit für ihre Mutter, der es in letzter Zeit nicht gut geht. Aber selbst wenn sie arbeiten wollte (sie ist gelernte Biologielaborantin), würde es für sie vermutlich sehr schwierig sein, eine Anstellung zu finden, da sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr berufstätig ist.

In seiner Freizeit ist Anselm engagierter Mitarbeiter im örtlichen Tierschutzverein, den er vor etlichen Jahren mitbegründet hat, und der sich gerade wegen der von ihm mitinitiierten Aktionen zu einer in der Stadt anerkannten Institution entwickelt hat. Betreuung des Tierheims, Beratung für Haustierbesitzer, Aktionen gegen Tiertransporte und vor allem gegen Tierversuche, die in einer nahegelegenen Kosmetikfirma durchgeführt werden, charakterisieren die Arbeit, für die Anselm S. meist federführend ist. Dadurch ist er auch über die Grenzen der Stadt hinaus zu einer bekannten Persönlichkeit geworden. Auch im privaten Bereich hat Anselm S. mit den Mitgliedern der Tierschutzgruppe sehr viel zu tun. Sie und ihre Familien stellen den größten Teil seines Bekanntenkreises dar. Er ist bei allen sehr beliebt.

Beruf, Familie und Hobby bereiten Anselm sehr viel Freude und eigentlich war er mit seinem Leben bisher sehr zufrieden. Doch nun droht dies alles, was er sich mühsam aufgebaut hat, zusammenzustürzen. Von seinem Vorgesetzten hat er erfahren, daß der Stellenabbau, der in seiner Firma seit der Übernahme durch die neuen Besitzer forciert wird, nun auch seine Abteilung treffen soll. Da man ihn als langjährigen Mitarbeiter nicht direkt entlassen kann, soll er, zunächst für ein halbes Jahr, in einer Filiale in der 250 km entfernten Landeshauptstadt eingesetzt werden. Allerdings nicht seiner bisherigen Position entsprechend. Innerhalb dieses Zeitraumes muß er sich dann um eine neue Stelle bemühen. Für einen Mann Anfang Fünfzig keine einfache Sache.

Einige Tage später trifft er in dem kleinen Pub in der Altstadt, in dem er seit einiger Zeit auf dem Nachhauseweg noch einmal kurz ein Bier trinkt, seinen ehemaligen Schul- und Studienkameraden Benno F. Benno ist Chemiker und mittlerweile im Vorstand der großen Kosmetikfirma am Ort. Die einst gute Freundschaft der beiden ist in den letzten Jahren sehr abgekühlt. Der Grund dafür war, daß in dem Unternehmen, in dem Benno Karriere gemacht hat, gerade die Tierversuche durchgeführt werden, gegen die sich Anselm und seine Gruppe so vehement auflehnen.

Benno hat von den Schwierigkeiten in Anselms Firma gehört und kommt ohne große Umschweife darauf zu sprechen. Im Laufe der Unterredung deutet er an, daß bei seiner Firma sehr bald eine Stelle neu zu besetzen sei, für die jemand mit seinen Fähigkeiten sehr geeignet wäre. Er läßt durchblicken, daß Anselm sich sogar finanziell besser stellen würde- auf Dauer, versteht sich. Wenn Anselm sich mit dem Gedanken anfreunden könne, er würde sich gerne für ihn stark machen, da er Vorstandsmitglied sei, wäre dies sicher auch erfolgreich.

Anselm spricht Benno auf die Versuche in den Labors seines Unternehmens an, worauf ihm sein früherer Freund zu verstehen gibt, daß er, wie immer, Scheuklappen trage: Erstens basierten die meisten Produkte nicht auf derartigen Versuchen, sie vertrieben ja auch zahlreiche Naturprodukte. Zweitens würden die Versuche nur einen ganz kleinen Teil von Anselms zukünftigem Arbeitsbereich darstellen. Und drittens, ob Anselm denn meine, daß er sich in seiner jetzigen Situation diese Bedenken leisten könne?

Anselm bittet um eine längere Bedenkzeit, doch Benno teilt ihm mit, daß die Neubesetzung der Stelle schon bald ansteht und er innerhalb der nächsten zwei Wochen zu einer Entscheidung kommen müsse.

In den nächsten Tagen geht Anselm so einiges durch den Kopf, vor allem auch seine beiden Kinder. Die ältere Tochter hat gerade ihr Abitur bestanden und freut sich auf den einjährigen Studienaufenthalt in den USA, den ihr ihre Eltern versprochen haben. Wenn sich die finanzielle Situation der Familie verschlechtert, wird dieser Aufenthalt nicht zu finanzieren sein. Der jüngere Sohn, 14 Jahre alt, hat mit der Schule zur Zeit nicht so viel im Sinn. Wie sein Vater ist er ein großer Tierfreund und widmet den größten Teil seiner Freizeit der Arbeit im Tierschutzverein. Sein Vater ist für ihn das große Vorbild.

Soll sich Anselm S. für die Stelle in Bennos Firma entschließen oder soll er ablehnen?

Anselm sollte Bennos Angebot annehmen

weil er das Prinzip Tierschutz ja doch nicht in letzter Konsequenz durchhalten kann: Er müßte nämlich eigentlich Vegetarier sein.

1

weil er als Lebensmittel-Chemiker zumindest in seiner Studienzeit bereits gegen das Tierschutzgebot verstoßen hat, also in Sachen Tierschutz sowieso keine reine Weste mehr hat

1

weil er das Recht hat, seinen Wohlstand zu wahren.

2

weil er Verantwortung für die übrigen Familienmitglieder hat, insbesondere für seine Frau, die 20 Jahre ohne Berufspraxis ist. Im Falle der Ablehnung wäre auch die gewohnte Pflege der Schwiegermutter stark in Frage gestellt.

3

weil die Firma auch Naturprodukte vertreibt und Anselm sich für den verstärkten Vertrieb von Naturprodukten einsetzen könnte.

2

weil im Zweifelsfall die Interessen von Menschen höher einzustufen sind als die von Tieren.

4

weil der anhaltende Wohlstand sicherlich auch den zunächst enttäuschten Sohn versöhnen wird.

2

Anselm sollte das Angebot von Benno ablehnen,

weil er sonst seine Glaubwürdigkeit verlieren würde
- im Hinblick auf sein Selbstkonzept (Verrat seiner Ideale, Weiterleben mit einer Lebenslüge),
seine Rolle als Vater (Vorbild, Wertorientierung für die Kinder),
- als Vertreter des Vereins.

3

weil er sonst seine Freunde verlieren würde (die ihn im Falle der Ablehnung bei der Arbeitssuche unterstützen würden).

3

weil es die Achtung vor Tieren verbietet, sie für die Herstellung von Kosmetika zu quälen.

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weil es zumutbar ist, daß der Sohn und die Tochter für Ausbildung und Studium z.T. selbst aufkommen.

3

weil Anselm im Familienrat der Zustimmung seines Sohnes und zumindest der Achtung der übrigen Familienmitglieder sicher sein kann.

3

weil das Absinken des Lebensstandards und der Statusverlust durchaus tragbar erscheinen.

4

weil das Recht auf Leben und Unversehrtheit prinzipiell jedem Lebewesen zusteht und Tierversuche generell abzulehnen sind.

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