[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Interview mit Ruth C. Cohn (R.C.)

Interviewer: Horst Heidbrink (H.H.)

aus: Gruppendynamik, 23. Jahrg., Heft 3, 1992, S. 315-325


Am 27.8.1992 ist Ruth C. Cohn 80 Jahre alt geworden. Sie ist Psychoanalytikerin und die Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Das folgende Gespräch, das ich für die Gruppendynamik am 21.7.1992 mit ihr geführt habe, war tatsächlich sehr viel länger und umfangreicher als hier abgedruckt werden konnte. Ich habe es nach Absprache mit ihr auf eine "druckfähige" Länge gekürzt.
Am 30. Januar 2010 ist Ruth. C. Cohn in Düsseldorf gestorben.


H.H.: Was war für Dich der wichtigste Anstoß bzw. die entscheidende Erfahrung, die die Entwicklung der "Themenzentrierten Interaktion" ausgelöst hat?

R.C.: Der Mut-Akt, den ich als das wesentlichste Ereignis meines "professionellen" und zum Teil auch meines persönlichen Lebens betrachte, steht in Zusammenhang mit meiner Arbeit als Lehranalytikerin. Mir war aufgefallen, daß bei ca. 80% der durchfallenden Kandidaten an unserem Institut der Grund die mangelhafte Bewältigung der Gegenübertragung war. Die mußten dann noch mal in die eigene Analyse zurück, um die Gegenübertragung zu überwinden - was natürlich auch nicht hilft. Gegenübertragungen und Übertragungen sind unschlagbar - sie können allenfalls gemildert werden. Es gibt Dinge, dazu gehören frühe Prägungen, die kann man nicht gänzlich wegbringen. Das Institut hat gesagt, die müssen in die Analyse zurück - das ist alles. Ich habe gefragt: "Was wird in der Zeit mit den Patienten?" - "Die müssen dann warten", war die Antwort. Ich war schon damals überzeugt, daß Gegenübertragung ein normales Phänomen ist - es gibt ja auch verschiedenste Formen davon. Dann kam eine von den Kandidatinnen zu mir und sagte, wenn dir das Institut das nicht erlaubt, bringe ich dir acht oder neun Leute und du machst ein Privatseminar. Das war der Anstoß. Am Abend vor der ersten Sitzung habe ich darüber nachgedacht, wie ich das eigentlich machen sollte, wie ich die Gegenübertragung behandeln sollte. Ich habe mir gedacht, ich lege mich auf meine eigene Couch und warte, was mir zu den Patienten und zu meiner Situation mit den Patienten einfällt. Ich habe überlegt, wie ich das machen will, wenn die kommen, und dann ist mir nichts anderes eingefallen als ihnen eine Darstellung zu geben, was in mir selbst vorgeht - hier und jetzt. Schon damals habe ich geglaubt, daß man im Hier-und-Jetzt besser lernt. Mir fiel dann eine Patientin ein, bei der ich das Gefühl hatte, daß meine eigenen Emotionen eine große Rolle spielten. Erst in der freien Assoziationsreihe in Anwesenheit der Gruppe fiel mir ein, welches Gefühl ich bei dieser Patientin hatte: "Die weiß alles, die ist doch so gescheit!" Sie war eine berühmte Chemikerin, die verstand natürlich sehr viel mehr von Chemie als ich und berühmt war ich auch nicht. Also - ich schwieg, man schwieg sowieso, aber ich schwieg noch viel mehr. Ich kam mir vor wie auf einem kleinen Schemel sitzend und meinem Papa zuhörend. Der weiß auch alles. Die ganze Zeit, während die zuhörten, hatte ich das immer stärker werdende Gefühl, die wissen genau was los ist.

H.H.: Die Gruppe, die da sitzt?

R.C.: Ja, die Gruppe, die da sitzt. Dies Gefühl wurde so stark, daß der Fall verschwand und sich meine Reaktionen nur noch auf die Gruppe bezogen. Ich weiß nicht, wie ich aufgehört habe. Wahrscheinlich: "Ich denke jetzt nur noch an euch, und was ist eigentlich jetzt bei euch los?" Dann fingen sie an zu reden, was ihnen zum Fall einfiel. Das war nicht nur das, was ich jetzt sagte, sondern das bezog sich vor allem auf die Interaktion zwischen den Leuten. "Was du gesagt hast, das erinnert mich anŠ", oder "Was du gesagt hast, das ärgert mich", "Ja, das habe ich auch schon gedacht". Ich kam eigentlich nur so nebenbei vor. Da ging mir irgendetwas auf. Zuerst noch nicht klar. Bei den nächsten Stunden fiel uns auf, daß die Person, die spricht, den Patienten durch ihre Art mit in die Gruppe bringt. Wenn ich darüber spreche, was ich da für Probleme habe, identifiziere ich mich in der Sprache, in der Auswahl dessen, was ich sage, auch mit dem Patienten. Und die Gruppe identifiziert sich mit dem Patienten oder mit mir.

In diesem einen Jahr haben wir wahnsinnig viel darüber rausgekriegt, was vorging in der Gruppe. Ich habe dann etwas später Gruppentherapie unterrichtet und hierbei Sachen gemacht, die andere nicht machten. Mir fiel erst sehr langsam ein, was ich eigentlich anders machte - ich habe dies in der "Gelebten Geschichte" (1) ausführlich dargestellt. Die anderen Lehrer wurden ein bißchen eifersüchtig, als die Studenten alle zu mir kommen wollten. Ich würde die positive Übertragung auf mich laden, die sie dann nicht bewältigen könnten - das war der Vorwurf. Ich wußte, ich mache irgendwas, aber ich wußte nicht was. Sehr, sehr langsam, wurde mir klar, was es eigentlich war: ich beachte mich, ich beachte die anderen, ich schweige sehr viel, aber nicht zu viel, ich bringe sie immer wieder zum Thema zurück - Ich, Wir und Es.

H.H.: Bei Ich, Wir und Es fällt mir die Freudsche Einteilung in Ich, Überich und Es ein.

R.C.: Das soll man nicht tun, Begriffe für etwas anderes zu verwenden. Mein Es ist natürlich ein total anderes als bei Freud; es ist hier die Sache und bei ihm ist es die Triebanlage. Ursprünglich hieß es: ich beachte mich, ich beachte uns und ich beachte das, was wir tun, also das Thema. Daher ja auch der Name "Themenzentrierte Interaktion", obwohl der auch nicht ganz günstig ist, es ist ja auch aufgaben- und interessenorientiert, nicht nur themenorientiert. Auch der Globe kam sofort rein, mein Bewußtsein, daß das Umfeld nicht das kleine Umfeld hier ist, sondern es geht in die Geschichte zurück und in die Zukunft hinein. Mit der Zeit wurde das Globeprinzip viel philosophischer, viel weitergehender. Heute brauche ich das ja nicht mehr zu erklären, da jeder weiß, daß der Globe einen Einfluß auf uns hat. Früher hat man in der Gruppe gar nicht beachtet, daß das, was in der Welt vorgeht, so wichtig ist.

H.H.: Du hast gesagt, daß Du die TZI vor allem aufgrund von Erfahrungen aus dem Gegenübertragungsworkshop entwickelt hast. Ohne dies gleich zu wissen und daß Dir dies erst mit der Zeit so bewußt geworden ist. Könnte man sagen, daß TZI doch die Tochter der Psychoanalyse ist?

R.C.: Wenn es ein Lebewesen gibt, das mehr als ein Elternpaar hat, dann kann man das sagen. TZI ist sehr beeinflußt von der Psychoanalyse und auch sehr beeinflußt von der geschichtlichen Situation des Nationalsozialismus. Die Methodik, da kann ich nicht sagen, daß der Einfluß von irgendetwas sehr stark war. Es gab zwar den Existentialismus in Amerika bei einer Anzahl von Therapeuten, mit denen ich aber damals noch keinen Kontakt hatte. Ich kam erst 1961 in Berührung mit der allgemeinen Szenerie. Ich habe in New York, wo ich lebte, mit den Nicht-Freudianern, also gerade den Existentialisten, gar keinen Kontakt gehabt. Auch habe ich in dieser Zeit fast nichts gelesen. Dies hing mit meiner persönlichen Situation zusammen. Ich war von meinem Mann geschieden und lebte mit zwei kleinen Kindern allein. Außerdem litt ich an einer chronischen Infektion infolge eines Blinddarmdurchbruches. Damals gab es - wie es passierte war ich 16 Jahre alt - noch keine Antibiotika, noch kein Penizillin. Ich war krank, ich habe Kinder gehabt, ich habe die Praxis gehabt, und mich mit Antibiotika - als sie dann kamen - einigermaßen gehalten. Trotzdem kam die Infektion immer wieder, bis ich mich durch eine makrobiotische Diät gerettet habe. Zwei Jahre lang habe ich nur makrobiotisch gegessen und die Infektion ist dann wirklich nicht wiedergekommen. Dies waren die Gründe, daß ich weder zum Lesen noch zum Reisen kam. Meine Bildung beruhte auf dem, was ich vorher gelernt hatte. Was ich dann sozusagen weitergeführt habe, war bis 1961 sehr unabhängig von dem, was sonst in der Welt geschah. 1960 oder 1961 wurde die American Academy of Psychotherapists (AAP) gegründet, ich war jedenfalls 1961 das erste Mal da. Da traf sich dann alles, was entweder mal Psychoanalytiker gewesen war oder es nie war, das waren Leute wie Carl Rogers und Virginia Satir. Die waren damals nicht so häufig da, aber die anderen: Gestalt-Fritz, die Experientialisten Carl Whitaker und John Warkentin, der rational-emotive (jetzt heißt es wieder anders, ich weiß nicht) Albert Ellis, George Bach, all diese Leute haben sich dort getroffen.. Es waren die Leute, die jetzt auch in Europa bekannt sind. Ich fand den Titel des ersten Jahrestreffen "The Continued Growth of the Psychotherapist" (Das stetige Wachstum des Psychotherapeuten) interessant, deshalb bin ich hingegangen, ich kannte ja niemand von denen. Es hat mich sehr bewegt, daß es auch noch andere Leute gab, die sich für dies Thema interessierten. Das erste Mal war das Treffen sogar in der Nähe von New York. Aber der Gegenübertragungsworkshop war vorher, und zwar zehn Jahre vorher.

H.H.: Kann man eigentlich sagen, daß TZI, was ja viele denken, eine bestimmte pädagogische Methode ist? Oder ist es mehr als dasŠ

R.C.: Meine ursprüngliche Idee war politisch motiviert - man müßte etwas gegen nationalsozialistisches Denken erreichen. Natürlich kann man nicht alle erreichen, aber die Lehrer und Schüler, das müßte man. Der Ansatz war sehr pädagogisch, aber meine Motivation war stark politisch.

H.H.: Das wird ja auch sehr deutlich an den Axiomen der TZI, die diese von vielen anderen Therapierichtungen und auch pädagogischen Methoden unterscheidet.

R.C.: Vor allem von der Psychoanalyse, die ja wertneutral arbeitet. Das war eine revolutionäre Idee, daß man gar nicht wertneutral sein muß. Im Laufe der Jahre hat sich das bei mir immer mehr verschärft.

H.H.: Du verstehst TZI als einen ganzheitlichen Ansatz.

R.C.: Gefühl, Verstand und der Globe gehörten von Anfang dazu.

H.H.: Immanuel Kant sagt zur Aufklärung "Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen" und Ruth Cohn hat hinzugefügt "Habe auch den Mut, Dich Deiner Gefühle zu bedienen". Dann kommt noch hinzu - das fiel mir besonders auf, als Du über Deine Krankheit gesprochen hast - auch auf den eigenen Körper zu hören.

R.C.: Ich hatte ja auch Glück. Wenn man sagt, es gibt keine Zufälle, das stimmt für mich nicht. Aber es stimmt, daß man die Zufälle, die zu einem passen, "auffangen" muß. Ich bin ganz zufällig an eine Schülerin von Else Gindler geraten, weil ich Kreuzschmerzen hatte. Zuerst war ich zu irgendeiner Gymnastiklehrerin empfohlen worden, die jedoch schwanger wurde und mich zu der Gindler-Schülerin geschickt hat. Da ist mein Körperbewußtsein trainiert worden, obwohl ich es gar nicht wollte, überhaupt nicht hieran interessiert war, sondern an der elf Jahre älteren Frau, die mir alles erzählte, was mir sonst niemand erzählte. Ich ging hin, weil ich sie furchtbar gern hatte, und fand das herrlich, daß sie mir endlich die wirklichen Dinge sagte. Aber später ist das natürlich von Anfang an mit in meine Analyse eingegangen.

H.H.: Aber es ist doch unheimlich schwer, das, was wir traditionsgemäß immer trennen - Gefühle, Verstand, Körper - richtig miteinander zu vereinbaren, auszubalancieren, ins Gleichgewicht zu bringen. Wie kann ich meinen Körper, meinen Verstand und mein Gefühl in Einklang bringen?

R.C.: Das kann man nicht, das ist ganz unmöglich. Du kannst nur einen Kompaß haben! Mein Kompaß ist: ich möchte meinen Körper nicht vernachlässigen, meine Seele nicht aufgeben, und ich möchte auch definitiv meinen Kopf benutzen. Weißt Du, heute ist es ja umgekehrt wie früher. Wenn ich heute in Gruppen bin, heißt es immer: "Du redest ja nicht vom Bauch, Du redest ja nur vom Kopf." Worauf ich dann immer sage: "Der Kopf ist auch ein schöner Körperteil." Es ist doch nur die dynamische Balance, die fehlt. Die Balance zwischen Kopf, Körper und Geist, zwischen mir und dir, zwischen mir und uns und der Welt, auch der dritten Welt usw. Aber man kann nicht alle Faktoren gleichzeitig beachten, das ist vollkommen ausgeschlossen. Wir müssen nicht dauernd damit beschäftigt sein, daß Millionen von Leuten heute sterben, weil sie Hunger haben. Und wir haben jetzt - im Augenblick bin ich ja nur zu Besuch - wir haben da Zimmer, da könnten in jedem Zimmer zwei Leute und in dem großen Zimmer zwanzig Leute schlafen. Es ist doch nicht wahr, daß es keinen Platz auf der Erde gibt, es ist doch nicht wahr, daß es nicht genug zu essen gibt, es ist nur wahr, daß die Verteilung schlecht ist. Es ist auch wahr, daß wir alle mitschuldig sind. Was mache ich, damit es langsam besser wird? Also, ich mache TZI und ich versuche, kein Fleisch zu essen und esse auch keines, außer wenn ich die Leute nicht verärgern will. Wenn ich Gruppen mache, dann spreche ich immer darüber. Es passiert dann mehr oder minder von selbst, daß mehr Leute während der Gruppenzeit herausfinden, daß man kann auch vegetarisch essen kann. Natürlich: auch die Pflanzen haben ein gewisses Anrecht auf Leben. Leben lebt vom Leben, ich kann nur wählen, was ich nicht essen will - ich kann nichts essen, was nicht lebt. Ich bin davon überzeugt, daß alles lebt. Nur bin ich auch überzeugt, daß die Bewußtseinsstufe und die Schmerzempfindlichkeit sehr unterschiedlich ist. Ich habe weniger Probleme, Ameisen aus Versehen totzutreten, weil ich drüberlaufe, oder Mücken mit Absicht tot zu machen, damit sie mich nicht stechen, als einen Hund umzubringen.

H.H.: Du hast einen sehr umfassenden Begriff von Verantwortlichkeit und Verantwortung.

R.C.: Ja, von Ganzheitlichkeit. Die Ganzheitlichkeit betrifft nicht nur die Person, sondern die Person im Universum.

H.H.: Könnte man sagen, daß TZI der Versuch ist, Leute in immer weiteren, konzentrischen Kreisen - über Ich und Wir zum Globe - dahinzubringen, nicht nur die Verantwortung für sich selber, sondern auch für andere zu übernehmen?

R.C.: Nein, nicht für die anderen. Nur für meinen Anteil bin ich verantwortlich, nicht für die anderen. Als Lehrerin kann mein Anteil z. B. darin bestehen, Kinder darauf aufmerksam zu machen, nicht grausam zu sein. Als Mathematiklehrer - ich schreibe jetzt gerade ein Buch TZI-Didaktik - kann mein Anteil als Lehrer auch darin bestehen kann, TZI zu lernen. Das sage ich heute Lehrern, "mache dich nicht zum Fachidioten". Die Kinder müssen wissen, daß es außer Mathematik im Augenblick Möglichkeiten gibt, daß sie umkommen, daß ihre Eltern umkommen, die Welt zerstört wird. Das mußt du - Gott behüte - nicht immer predigen, sonst wollen sie weder von Mathematik noch von Ökologie je etwas wissen. Du selbst mußt dir dessen bewußt sein. Dann kannst du das dem Kind ab und zu mal sagen.
Ich sehe da einen Fortschritt durch Jesus Lehre, und einen Rückschritt dadurch, daß anerkannt wurde - und das ist vielleicht auch ein Fortschritt, weil Jesus weiser war als ich - daß die Menschen besser lernen, wenn sie ein menschliches Vorbild haben, daß sie sich eher auf Jehova einlassen können, wenn es ein menschliches Vorbild gibt. Ich habe nie gesehen, daß Jesus von sich gesagt hat, er sei anders als andere Menschen - er hat nur das Göttliche mehr vertreten. Die Menschen - ich habe Angst das auszusprechen - wollten ihn zu einem Gott machen, können ihn aber auch zu einem Götzen machen. In der TZI wird das religiöse Element nicht abgelehnt. Heute wagt ja jeder zu sagen, er sei religiös. Noch vor 25 Jahren war dies ganz anders. Ich habe mit meinen Patienten in New York - also ich schäme mich jetzt dafür - nicht über Gott gesprochen. Kein Mensch hat über Gott gesprochen; man hat über die Freundin gesprochen, über die Arbeit gesprochen - Gott, das war etwas für die ungebildeten Leute. Und jetzt, jeder! Ich habe mich immer gewundert - hast Du zufällig mein Gedichtbuch (2) gesehen?

H.H.: Ja.

R.C.: Da spielte Gott immer eine ganz große Rolle, auch in den alten Gedichten. Immer habe ich von Gott gesprochen, obwohl ich überhaupt nicht mehr an ihn geglaubt habe, aber ich fand keinen anderen Ausdruck dafür.

H.H.: Auch der Baum hat in Deinen Gedichten eine große Rolle gespielt!

R.C.: Das hat Dorothee Sölle so betont (3), ich habe das gar nicht so gefunden.

H.H.: Ist das nicht richtig?

R.C.: Nachdem ich es dann gelesen habe, ja! Der Baum, es kann auch die Rose sein, alles was uns als lebendig erscheint, ist ein Symbol des Religiösen. Die biblische Legende von Gott, der anderen den Atem gibt, hat einen zumindest symbolischen Sinn. Der Mensch hat wirklich etwas, was Tiere allenfalls auf einer so viel tieferen Bewußtseinsstufe besitzen, daß wir es nicht mehr Geist sondern Instinkt nennen. Man sagt so von oben herab, die Katze säugt ihre Kätzli so schön, weil ihr sonst ihre Zitzen weh tun - das ist wohl bei Frauen auch nicht viel anders, wenn sie anfangen zu stillen. Aber bei ihnen spielt die Liebe eine Rolle, und ich weiß nicht, inwieweit sie bei der Katze eine Rolle spielt. Bei einer Frau ganz bestimmt unendlich viel. Wenn ich ein Kind nähre, dann ist ein unglaublich liebendes Gefühl dabei, außer wenn ich - nimm mein Gedicht "Mutter" - nicht mehr imstande bin, ganzheitlich zu empfinden. Wenn Du krank bist und nicht mehr genug Geld hast, und du hast Kinder, da ist es mit der Liebe schwer. Sie bleibt, aber es ist schwer, sie zu empfinden und immer wieder zu empfinden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Mütter, die die Kinder in der Wüste kriegen, eins nach dem anderen, daß sie imstande sind, die Liebe jeweils immer zu erhalten und nicht auch langsam froh wären, wenn es eins weniger ist.

H.H.: Das erinnert mich jetzt an die Bedürfnispyramide von Maslow, daß bestimmte Grundbedürfnisse erst einmal erfüllt sein müssenŠ

R.C.: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral

H.H.: Ja, genau.

R.C.: Ich habe es nicht ganz so gesehen wie er. Ich würde es so nicht sagen, aber es ist auch wahr. Wie alle Symbole, ist es auch wahr.

H.H.: Wenn man mal ein Stichwort von Maslow nimmt, z. B. SelbstverwirklichungŠ

R.C.: Das habe ich geändert für mein Institut, da heißt es nicht Selbstverwirklichung, sondern Persönlichkeitsentwicklung. Wenn ich unbedingt so ein Seminar geben muß (also ich finde es wichtig, daß es gemacht wird und die Helga (4) macht das z. B. phantastisch - wenn ich also jetzt sage "geben muß", dann deswegen, weil ich es so oft gemacht habe und lieber etwas anderes machen möchte), heißt das für mich: "Selbst und andere". Du kannst dich nicht ohne andere selber verwirklichen, das geht nicht. Ich habe dies in meinem Buch "Es geht ums Anteilnehmen" beschrieben. Es geht um beides, es geht ums Anteilnehmen und ums Teilsein, aber das Teilsein braucht man im Titel nicht zu sagen. Ich bin Teil der Gesellschaft, Teil des Universums und ich nehme Anteil, und im Anteilnehmen ist ein Teil biologisch bestimmt und ein Teil, ein kleiner Teil von Autonomie, den wir haben.
Ich wollte noch was anderes erzählen. Es liegt in der Sache, daß sich die Dinge weiterentwickeln. Und da wollte ich gerade das Beispiel von der Familientherapie bringen. Als ich nach New York kam, sagte man mir die Chairperson des Aufnahmekomitees des New York Psychoanalytic Institute, ich dürfe keine Therapie machen, keine Analyse machen, denn spätestens in sechs Jahren käme ein Gesetz und dann würden alle Psychologen rausgeworfen.

H.H.: Psychotherapie sollte den Medizinern vorbehalten bleiben.

R.C.: Ja. Ich habe dann gefragt, was würdest du machen, wenn du das alles gelernt hättest, und es gern und gut machst, und mir wurde gesagt, ich solle analytisch mit Kindern arbeiten, "das könnte unter Pädagogik fallen". Ich habe eine Ausbildung in Early Childhood Education an den Bankstreet-Schools gemacht, die mich sehr viel mehr beeinflußt hat als irgendetwas anderes von der Psychologie her. Die waren radikal in der Beachtung und im Respekt vor dem Kind - ausgelassen wurde allerdings - unter uns gesagt - der Respekt vor der Lehrerin. Aber ich habe sehr viel über Kinder und Child Development gelernt. Meine damalige Idee, daß man auch therapeutisch arbeiten müßte, wurde auch gestärkt, denn die Begründerinnen dieser Schule hatten schon viel von der Psychoanalyse gelesen zumindest. Das Interessante ist, das waren alles Frauen - es gab immer mal einen Lehrer dazwischen, aber meine Lehrerinnen waren alles Frauen. Ich habe da wahnsinnig viel gelernt und vor allem ein ganz anderes Gefühl für Kinder bekommen. In meiner therapeutischen Arbeit mit den Kindern habe ich sofort gemerkt, daß es Probleme mit den Eltern gab, wenn sie nicht verstanden, was passierte. Wenn ich sie nur einmal im Monat sah und dem Kind auch noch versprach: "Ich erzähle den Eltern nicht, was hier vorgeht. Du mußt es auch nicht." Das ist ein antitherapeutisches Element. Allen Leuten, die mit Kindern gearbeitet haben, müßte aufgefallen sein, daß man mit der Familie arbeiten muß. Wenn man mit der Familie arbeitet, öffnet sich der Kreis weiter: wo bleibt die Sippe, wo bleibt das Dorf, wo bleibt die Gemeinde.

 

Fortsetzung

Anmerkungen

  1. Cohn, R. C. & Farau, A. (1991). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart: Klett-Cotta (Originalausgabe 1984)
  2. Cohn, R.C. (1990). Zu wissen dass wir zählen. Gedichte, Poems mit Scherenschnitten von Annemarie Maag. Bern: Zytglogge Verlag.
  3. In ihrem Vorwort zu Ruth Cohns Buch "Zu wissen dass wir zählen" schreibt D. Sölle: "In welchen Sprachen auch immer, es kommt mir so vor, als handelten alle Gedichte dieses Buches vom Baum, der gehen kann, vom 'walking tree'."
  4. Gemeint ist Helga Herrmann, eine graduierte TZI-Leiterin, bei der Ruth Cohn zur Zeit des Interviews zu Besuch war.

 




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