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Gehirnforschung & Freiheit: Die Libet-Experimente

Der Psychologie kommt daher bei der Erforschung des "freien Willens" eine Schlüsselrolle zu, da sie von allen Wissenschaften noch am engsten an der Schnittstelle von Geistes- und Naturwissenschaften angesiedelt ist, wobei sie sich aber auf Grund ihrer "Menschenkenntnis" darüber im Klaren ist, dass eine Beantwortung der Frage nach den Grundlagen menschlicher Freiheit wohl durch den Ausgang des Machtkampfes zwischen den Wissenschaftsdisziplinen entschieden werden wird, denn in der Wissenschaftsgeschichte hat Erkenntnis eben immer auch damit zu tun, welche "Wahrheit" sich schließlich nachhaltig etablieren läßt.

 

In seinen ursprünglichen Experimenten untersuchte Libet die zeitliche Abfolge zwischen einer einfachen Handlung, dem dazugehörigen bewussten Willensakt und der Einleitung der Handlung auf der neuronalen Ebene; im allgemeinen werden aus seinen Experimenten aber auch Aussagen über die kausalen Zusammenhänge zwischen diesen Prozessen abgeleitet. Die Versuchspersonen hatten die Aufgabe, insgesamt vierzig Mal eine einfache Handbewegung der rechten Hand auszuführen. Den Zeitpunkt der Ausführung konnten sie jeweils weitgehend frei wählen. Gleichzeitig waren sie aufgefordert, sich genau zu merken, wann sie den bewussten "Drang" ("urge") oder Wunsch verspürten, die Bewegung auszuführen. Zu diesem Zweck sollten sie sich die Position eines Punktes merken, der sich ähnlich wie ein Sekundenzeiger mit einer Geschwindigkeit von ca. 2,5 Sekunden pro Umdrehung auf einer Art Zifferblatt bewegte. Libet maß gleichzeitig den Anstieg des symmetrischen Bereitschaftspotentials. Das symmetrische Bereitschaftspotential ist ein im Elektroenzephalogramm (EEG) messbares negatives elektrisches Potential, das bei der Vorbereitung willentlicher Bewegungen entsteht und etwa eine Sekunde vor der Ausführung der Bewegung einsetzt. Das Potential ist sehr schwach; es kann daher nur durch Mittelung über eine Vielzahl von Versuchsdurchgängen festgestellt werden. Die zugrunde liegende neuronale Aktivität tritt auf im supplementären motorischen Areal, im primären motorischen Areal sowie in den primären und sekundären sensorischen Arealen. Um eventuelle Verzerrungen bei der Datierung des bewussten Willensaktes durch die Versuchsperson abschätzen zu können, ließ Libet seine Versuchspersonen mit derselben Uhr leichte elektrische Hautreize datieren. Das Ergebnis war für Libet selbst überraschend: Das Bereitschaftspotential setzte im Mittel etwa 550 Millisekunden vor der Ausführung der Bewegung ein; der Willensakt wurde jedoch, ebenfalls im Mittel, erst 200 Millisekunden vor der Ausführung der Bewegung bewusst und damit etwa 350 Millisekunden nach dem Auftreten des Bereitschaftspotentials. Libet zufolge zeigt dies, dass das Gehirn "'entscheidet', eine Bewegung, oder zumindest die Vorbereitung einer Bewegung einzuleiten, bevor es irgendein subjektives Bewusstsein davon gibt, dass eine solche Entscheidung stattgefunden hat" (Libet 1985, S. 536). Viele Autoren haben hieraus weitreichende Schlussfolgerungen in bezug auf die Willensfreiheit gezogen. In ihren Augen zeigen die Libet-Experimente, dass unser Handeln nicht von unseren bewussten Entscheidungen abhängt, sondern von unbewussten Hirnprozessen. Unsere bewussten Willensakte sind, so diese Autoren, bloßes Beiwerk, das auftritt, nachdem das Gehirn längst festgelegt hat, was wir tun werden. Von Willensfreiheit kann daher keine Rede sein. Vielmehr scheint es, als sei die Handlungsentscheidung längst gefallen, wenn die bewusste Intention ausgebildet wird. Wenn das zutrifft, ist die Handlungsintention nicht die kausale Grundlage der Handlungsentscheidung, vielmehr kommt die Handlungsentscheidung in anderen Prozessen zustande, die Libet als unbewusst bezeichnet (vgl. Prinz 1996, S. 99) Der Einwand gegen die Realität der Willensfreiheit ergibt sich also daraus, dass die Libet-Experimente zu zeigen scheinen, dass die Festlegung auf eine bestimmte Handlung nicht durch eine bewusste Entscheidung der Person, sondern durch einen unbewussten Hirnprozess erfolgt. Diese Einwand ist völlig unabhängig vom Problem des Determinismus. Die Behauptung, dass die Handlung nicht durch die Person, sondern durch unbewusste neuronale Prozesse gesteuert wird, liefert auch dann einen Einwand gegen die Willensfreiheit, wenn sich unsere Welt als nicht determiniert erweist bzw. wenn Freiheit und Determination miteinander vereinbar sind. Libet selbst hat aus seinen Experimenten jedoch niemals eine Widerlegung der Willensfreiheit abgeleitet. Er glaubt nachweisen zu können, dass auch eine durch das Bereitschaftspotential eingeleitete Handlung noch kurz vor der geplanten Ausführung durch ein bewusstes "Veto" gestoppt werden kann. Libet hatte seine Versuchspersonen in einer weiteren Bedingung des Experiments aufgefordert, die Bewegung zwar vorzubereiten, sie jedoch kurz vor einem festgelegten Zeitpunkt zu unterbrechen. Es stellte sich heraus, dass dies noch bis zu 100 Millisekunden vor der geplanten Ausführung möglich war. Libet stellte außerdem ein Bereitschaftspotential fest, das im wesentlichen demjenigen in den normalen Versuchsdurchläufen entsprach. Es ist jedoch unklar, ob Libet damit wirklich einen glaubhaften Nachweis für die Existenz eines solchen Vetos erbracht hat. Dies würde voraussetzen, dass in den genannten Experimenten tatsächlich eine bereits eingeleitete Handlung spontan unterbrochen wurde. Dies war jedoch nicht der Fall. Die Versuchspersonen wussten nämlich schon bei der Einleitung ihrer Handlung, dass sie diese zu einem vorgegebenen Zeitpunkt unterbrechen würden. John Dylan Haynes (Bernstein Center for Computational Neuroscience an der Charité in Berlin) konnte nachweisen, dass bereits mehrere Sekunden vor einer bewussten Entscheidung aus der Gehirnaktivität abgelesen werden kann, was Menschen letztlich tun werden. Probanden sollten sich ein einem Experiment entscheiden, ob sie zu einem selbstgewählten Zeitpunkt einen Knopf mit der linken Hand oder einen anderen mit der rechten drücken wollen. Die meisten Probanden gaben an, sich innerhalb einer Sekunde vor dem Drücken für den einen oder den anderen Knopf entschieden zu haben. Durch Messungen der Gehirnaktivität des frontopolaren Cortex an der Stirnseite des Gehirns konnten die Forscher jedoch in etwa 60 Prozent der Fälle schon sieben Sekunden vor diesem bewussten Entschluss vorhersagen, welche Hand die Testperson einsetzen wird. Das deutet darauf hin, dass die Entscheidung im Gehirn bereits unbewusst angebahnt war, lange bevor sie bewusst getroffen wurde. Jeder Gedanke ist in einem räumlichen Muster der Hirnaktivität kodiert ist, wobei es offensichtlich bestimmte Areale für die Speicherung von optischen oder akustischen Eindrücken, von Plänen oder Erinnerungen gibt. Kennt man nun das Muster eines bestimmten Gedankens im Gehirn, kann man diesen Gedanken auch "lesen".

Die neuere neurobiologische Forschung zeigt aber eindeutig, dass man das Bereitschaftspotenzial auch messen kann, wenn es gar keine Bewegung gibt, d. h., man kann eine Entscheidung auch zurückziehen, nachdem man diese getroffen hat. Das gemessene Potenzial hat vermutlich eher etwas mit der inneren Zeitmessung zu tun oder wird von anderen Faktoren bestimmt. Park et al. (2020) haben Probanden an ein Elektroenzephalogramm angeschlossen, während diese auf einen Knopf drückten, wobei gleichzeitig Herzschlag und Atemrhythmus erfasst wurden. Dabei zeigte sich, das das Drücken des Knopfes mit der Atmung zusammenhing. Entschieden die Probanden selbst, wann sie den Knopf drücken wollten, geschah dies meist am Ende des Ausatmens, also kurz vor dem erneuten Einatmen. Dieser Zusammenhang verschwand, wenn der Zeitpunkt der Bewegung durch ein Signal vorgegeben wurde und nicht selbstbestimmt war. Auch das gemessene Bereitschaftspotenzial war unterschiedlich stark in Abhängigkeit von den Phasen der Atmung. Keinen Zusammenhang gab es hingegen mit dem Rhythmus des Herzschlags. Man vermutet daher, dass das Bereitschaftspotenzial eher Änderungen in einer Hintergrundaktivität der Gehirnzellen darstellt, die von anderen Körperfunktionen abhängig ist. Auch könnte es sich um eine Konkurrenz verschiedener Bewegungsprogramme handeln, denn während der Steuerung der Atemmuskulatur wird die Auslösung anderer Bewegungen verhindert. Das Bereitschaftspotenzial wäre demnach kein vom Gehirn vorgegebener Auslöser einer Handlung, sondern gleicht nur das Verhalten dem Rhythmus des Körpers an.

Grundsätzliches zur Freiheit: Ethik und Recht stimmen darin überein, dass Freiheit als selbstursprünglich verstanden wird, was bedeutet, dass im Handelnden selbst ein Ursprung einer Reihe von Handlungen angenommen wird, die ihm dann als Verantwortlichem zugerechnet werden. Dabei hat es den philosophischen Theorien genügt zu zeigen, dass man sich durch Freiheit bestimmen lassen kann und dabei doch bruchlos Teil der Natur ist, denn äußerlich sieht man einem Handelnden seine Freiheit nicht an. Seine Muskeln und Sehnen, sein Körper bewegt sich gänzlich als Natur, ohne dass hier die geringste Unterbrechung im Naturdeterminismus festzustellen wäre, sodass auch nirgendwo ein Übergang von einem unsichtbaren Geist, der die Natur bewegt, zu entdecken ist, vielmehr geht es um den Bestimmungsgrund zum Handeln. Ist er material, also selbst wieder nur durch die Sinne bedingte Neigung, also Natur, oder ist der Bestimmungsgrund allgemeingültig, den man im ethischen Handeln von jedem fordern könnte? Kann also der Bestimmungsgrund in ethisch relevanten Handlungen jederzeit für jeden als Handlungsgesetz taugen? Die Antwort darauf ist nein, denn allgemein Gültiges ist nicht messbar bzw. beobachtbar (Riebel, 2020).

Linktipp: Eine kritische Auseinandersetzung mit den Interpretationen dieses Experiments findet sich auf Philosophie verständlich: Willensfreiheit: Die Libet-Experimente Philosophie verständlich: Willensfreiheit: Die Libet-Experimente

Quelle

Pauen, Michael (2005). Die Libet-Experimente.
WWW:http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit/aktuell/libet.html (05-11-11)

Literatur

Libet, Benjamin (1985). Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action. The Behavioral and Brain Sciences VIII, S. 529-539.

Prinz, Wolfgang (1996). Freiheit oder Wissenschaft. In M. v. Cranach und K. Foppa (Hrsg.), Freiheit des Entscheidens und Handelns. Ein Problem der nomologischen Psychologie (S. 86-103). Heidelberg: Asanger.

Pauen, Michael (2004). Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Park, Hyeong-Dong, Barnoud, Coline, Trang, Henri, Kannape, Oliver A., Schaller, Karl & Blanke, Olaf (2020). Breathing is coupled with voluntary action and the cortical readiness potential. Nature Communications, 11, doi:10.1038/s41467-019-13967-9.

Riebel, A. (2020). Das Gehirn als handelnder Akteur: Benjamin Libet hat mit neuronalen Experimenten die Willensfreiheit bestritten. Die Tagespost vom 19. Septmeber.

https://www.derstandard.de/story/2000114968495/freier-wille-unser-gehirn-bestimmt-nicht-fuer-sich-allein (20-02-29)

 

Lebenslauf von Benjamin Libet

1916 in Chicago, Illinois geboren. Er studierte Physiologie an der University of Chicago und schloss sein Studium 1939 mit dem Ph.D. in Physiology ab. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit dem Thema "Electrical activity of the isolated frog brain" unter der Betreuung von Ralph W. Gerad. Von 1945-1948 arbeitete er als Assistenzprofessor an der University of Chicago und forschte ein Jahr (1956) zusammen mit Sir John Eccles in Canberra, Australien. Im Zuge seiner Karriere war er Dozent am Albany Medical College (New York), Research Fellow am Institute of the Pennsylvania Hospital (in Neurochemie) in Philadelphia und Instructor an der University of Pennsylvania Medical School. Heute ist Libet als Professor Emeritus am Medical Center der UC San Francisco und am Center for Neuroscience der UC Davis tätig.
Carmen Morawetz

Gehirn erkennt Fehler früher, als sie uns bewusst werden

Clemens Maidhof (Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften) hat mit anderen Forschern nachgewiesen, dass das Gehirn schon früh Vorhersagen darüber macht, welches Ergebnis eine Handlung bewirken wird. Steht die Vorhersage im Widerspruch zum Handlungsziel, kann das Gehirn den Fehler entdecken, bevor er gemacht worden ist. Bei einem Experiment spielten Pianisten, bei denen mittels EEG die Gehirnaktivität aufgezeichnet wurde und denen zur Vorbeugung von Ablenkungen die Augen verbunden waren, beidhändig Tonfolgen, die zuvor auf einem Band vorgespielt worden waren. Unterlief den Musikern ein Fehler, führte das zu einem Anstieg im EEG, bevor die Pianisten den falschen Ton gehört haben konnten, wobei das Gehirn den Fehler schon eine Zehntelsekunde, bevor er geschehen ist, zu erkennen schien. Die falschen Tasten wurden zudem leiser und verzögert angeschlagen, aber auch die zweite Hand, die zur gleichen Zeit die richtige Taste spielte, wies eine Verzögerung auf.

Quelle

Maidhof, C., Rieger, M., Prinz, W., Koelsch, S. (2009). Nobody Is Perfect: ERP Effects Prior to Performance Errors in Musicians Indicate Fast Monitoring Processes. PLoS ONE 4(4): e5032. doi:10.1371/journal.pone.0005032

Quellen und Literatur



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