[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Der Einfluss des Musizierens auf das Gehirn

Literatur

Braun, M. & Chaloupka, V. (2005). Carbamazepine induced pitch shift and octave space representation. Hear. Res. 210, 85-92.

Braun, M. (2006). A retrospective study of the spectral probability of spontaneous otoacoustic emissions: Rise of octave shifted second mode after infancy. Hear. Res. 215, 39-46.

Finke, C., Esfahani, N.E. & Ploner, C.J. (2012). Preservation of musical memory in an amnesic professional cellist. Curr Biol., 22.

wissenswert (2014). Der Ton macht mehr als nur Musik. Magazin der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.
Vaquero, L., Hartmann, K., Ripollés, P., Rojo, N., Sierpowska, J., François, C., Càmara, E., van Vugt, F.T., Mohammadi, B., Samii, A., Münte, T.F., Rodríguez-Fornells, A., & Altenmüller, E. (2016). Structural neuroplasticity in expert pianists depends on the age of musical training onset. NeuroImage, 126, 106-119.

Stangl, W. (2021, 28. September). Warum Melodien so leicht zu merken sind. Stangl notiert …

https://notiert.stangl-taller.at/zeitgeistig/warum-melodien-so-leicht-zu-merken-sind/
http://www.nachrichten.at/archiv/ retrieve.asp?query=-shlyc:client/ooen/
ooen/textarch/j2002/q1/m03/t18/ph/
s007/005_001.dcs&ausgabe=H/
Hauptausgabe&datum=18.03.2002&
seite=007 (02-06-24)
http://nachrichten.rp-online.de/
kultur/wiedergeburt-des-wiegenlieds-
1.104079 (10-10-22)

Menschen speichern in ihrem Leben Tausende von Melodien im Gehirn, wobei solche Erinnerungen dann erstaunlich präzise und binnen Millisekunden abrufbar sind, und sie gehören auch zu den letzten, die Alzheimer-Patienten noch besitzen. Dabei sind verschiedene Gehirnregionen für die Verarbeitung von Rhythmus und Melodie verantwortlich, wobei der Rhythmus von eine anderen Areal verarbeitet wird als etwa die Melodie oder die Klangfarbe. Aufgrund dieser verteilten Struktur ist das Gehirn gegen den Ausfall einzelner Netzknoten immun, sodass das menschliche Musikgedächtnis äußerst robust bleibt, selbst wenn die übrige Gedächtnisleistung nachlässt. Hinzu kommt die Verknüpfung von Höreindruck und Gefühl, denn kaum eine musikalische Erinnerung ist emotional neutral, d. h., das Gefühlszentrum im Gehirn wird immer mit angesprochen. Je intensiver die Gefühle waren, die man beim ersten Hören einer Melodie empfunden hat, desto intensiver werden auch die Erinnerungen daran, wobei bei den meisten Menschen diese Verbindung von der Pubertät bis ins junge Erwachsenenalter am intensivsten ist. Von daher kommt es vermutlich, dass der Musikgeschmack in diesem Alter geprägt wird, was dazu führt, dass sich viele Menschen in ihren musikalischen Erinnerungen einnisten und vorwiegend Musik eines bestimmten Genres hören wollen.

Musik ist nach Ansicht von Experten eine biologisch verankerte, sensorische und kognitive Sprache des menschlichen Gehirns und spricht Gehirnregionen an, in denen die motorische Kontrolle, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und Sprache verarbeitet und gesteuert werden. Akustische Klangmuster können daher den Bau neuronaler Netze im Gehirn ansprechen und verändern. In einem Experiment an einem kleinen afrikanischen Volksstamm in Kenia wurde z.B. festgestellt, dass das Anhören einer Melodie in Dur Freude hervorgerufen hat, während eine in Moll gehaltene Melodie schwermütige Gedanken auslöste. Offensichtlich reagieren Menschen auf bestimmte Tonfolgen und Intervalle auf Grund eines kulturell und genetisch verankerten Musters. Musik bleibt übrigens auch länger im Gedächtnis erhalten als Sprache, wobei Musik einen wesentlichen Anteil an sozialen Interaktionen hat, denn z.B. Hymnen und Volkslieder können durch ihre rhythmische Struktur ein Wir- und Sicherheitsgefühl hervorrufen. Besonders in der Werbung wird durch den Einsatz der Musik an der Verfestigung einer Marke im Gedächtnis der Konsumenten gearbeitet. Nach Finke et al. (2012) ist das menschliche Musikgedächtnis zumindest teilweise unabhängig von anderen Arealen (Hippocampus), in denen Gedächtnisinhalte gespeichert werden. Das bedeutet, dass das Gedächtnis für Musik unabhängig von anderen Gedächtnisleistungen organisiert zu sein scheint. Möglicherweise hat die enorme Bedeutung von Musik zu allen Zeiten und in allen Kulturen zu der Entwicklung eines eigenständigen musikalischen Gedächtnisses beigetragen.

Pianisten besitzen im Vergleich zu Nicht-Pianisten größere Zentren, die für das Lernen und Gedächtnis zuständig sind (Hippocampus), die der Automatisierung von Bewegungen dienen (Putamen und Thalamus), die Emotionen und Motivation verarbeiten (Amygdala), und die Hören und Sprachverarbeitung leisten (linker oberer Schläfenlappen). Sie haben aber kleinere Zentren für die sensomotorische Kontrolle (die Postzentralregion), für die Verarbeitung von Klängen und Musik (rechter oberer Schläfenlappen) und für das Notenlesen (sogenannter supramarginaler Gyrus). Die Größe der Zentren, die für Automatisierung von Bewegungen zuständig sind (rechtes Putamen), hängen vom Beginn des Klavierspiels ab, d. h., je früher Pianisten beginnen, Klavier zu spielen, desto kleiner ist diese Region (wobei sie allerdings grundsätzlich größer ist als bei den Nicht-Pianisten), und desto präziser ist auch ihr Tonleiterspiel (Vaquero et al., 2016).

Aufgrund vieler Beobachtungsstudien wurden positive Einflüsse des Musizierens auf die Entwicklung von Kindern, gewisse Transfereffekte wie geringere Aggressivität, höhere Sozialisation und Konzentration aber auch bessere schulische Leistungen festgestellt, jedoch waren bislang die Vorgänge im menschlichen Gehirn durch musikalische Betätigung kaum nachvollziehbar und beweisbar. Einig waren sich die Hirnforscher, dass aktives Musizieren wie keine andere Tätigkeit dauerhaften Einfluss auf die Gehirnanatomie hat. Die gleichzeitige Anregung vieler Hirnareale führt - ständiges Training vorausgesetzt - einerseits zu einer intensiveren Vernetzung einzelner Hirnsysteme und andererseits zu einer Fokussierung und Ökonomisierung. Interessanterweise sind einerseits die Zentren, die für Gedächtnis, Emotion und für die Automatisierung zuständig sind, größer als bei anderen Menschen, andererseits sind die Zentren kleiner, die direkt mit dem Hören und dem Bewegen der Finger zusammenhängen. Offensichtlich optimiert sich das Gehirn schon vor dem Alter von sieben Jahren und erstellt besonders effiziente Steuerprogramme, die wenig Platz im Gehirnn brauchen, sehr stabil laufen und auch später im Leben schnelleres Lernen ermöglichen (Vaquero et al., 2016).

Im Unterschied zu Laien werden bei Professionisten also auch andere Hirnregionen - d. h., solche, die Gedächtnis- und Kreativitätsleistungen erbringen - angesprochen, allerdings nur punktuell und daher offenbar wesentlich effizienter, wodurch das Gehirn auch für andere Aufgaben leistungsfähiger wird. Interessanterweise wurde durch die Naturwissenschafter auch die qualitative Unterscheidung zwischen E- und U-Musik nachgewiesen: Die positiven Vernetzungseffekte sind bei Schlager- und Popmusik kaum oder gar nicht vorhanden.

Übrigens bewegen sich Säuglinge bereits im Alter von fünf bis sechs Monaten zu Musik, wobei sich diese nicht einfach unkontrolliert bewegen, sondern teilweise im richtigen Tempo und im Rhythmus der Musik. Anhand von speziellen Kameras, die eine dreidimensionale Auflösung von Bewegungsmustern ermöglichen, konnte man die Bewegungsabläufe der Kleinkinder auf die Millisekunde genau musikalisch abbilden. Je rhythmischer sich die Kleinkinder zur Musik bewegen, desto eher lächeln sie und scheinen mehr Freude daran zu haben. Untersucht wurde dieses Phänomen mit Hilfe der 3D-Motion-Capture-Technologie, einem Tracking-Verfahren, das Bewegungen sehr genau erfasst und in ein für den Computer lesbares Format umwandelt. Forschungsergebnisse deuten übrigens darauf hin, dass Menschen mit musikalischer Begabung eine höhere emotionale Intelligenz aufweisen, wobei diese Fähigkeit das Erkennen von Emotionen in der Sprechstimme oder im Gesicht beinhaltet, eine Eigenschaft, die in der Kommunikation besonders wichtig ist. Menschen mit dieser Begabung sind somit hellhöriger und zeigen eine höhere Empathiefähigkeit.

Der auditorische Thalamus als anatomische Grundlage der Musikwahrnehmung

Seit einigen Jahren weiß man, dass das menschliche Gehirn eine feste Anlage zur Wahrnehmung von Oktaven-Zirkularität hat, wobei in allen fortgeschrittenen Musikkulturen die Namen für Töne in den jeweiligen Tonleitern wiederholt werden, sobald das Oktav-Intervall - also das Frequenzverhältnis 1:2 - erreicht wird. So werden im europäischen Musiksystem die oktavabständigen Töne von 110, 220, und 440 Hz allesamt A genannt, nur in technischen Beschreibungen wird auch die jeweilige Oktave gekennzeichnet wie etwa durch A, a, und a1. Diese universelle Zirkularität kann als Beweis für eine ebenso universelle Zirkularität in der Tonwahrnehmung gelten, wobei diese Art der Tonwahrnehmung auch bei Primaten festgestellt wurde. Auch von Katzen und Kaninchen ist bekannt, dass die ventrale Abteilung des Nucleus geniculatis medialis im Thalamus der einzige Bereich in der Hörbahn von Säugern ist, der eine Oktaven-Architektur hat. Hier bilden gestapelte Neuronenschichten eine Frequenz-Kartierung mit Sprüngen von einer Oktave quer zu den Schichten und mit einer Feinverteilung entlang der Schichten. Das Netzwerk der Nervenfasern zwischen den Neuronenschichten ist dabei so ausgelegt, dass wahrscheinlich diejenigen Signale integriert werden, die von oktavabständigen Tönen ausgelöst werden, wie z.B. von A, a, und a1. Sie könnten dann in ein zusätzliches Signal für ein General-A transkodiert werden. Dies kann auch erklären, warum alle A genannten Töne, gleich welcher Oktave, eine gemeinsame Tonqualität (Chroma) haben, wobei der auditorische Thalamus als die anatomische Grundlage der internen Chroma-Karte angesehen werden kann (siehe dazu Braun & Chaloupka, 2005; Braun, 2006).

Renaissance des Wiegenliedes

Musik muss analog zum Spracherwerb als grundlegendes menschliches Kommunikationssystem gefördert werden. Hier sind besonders die Eltern aufgerufen, diese Aufgabe nicht technischen Hilfsmitteln zu überlassen, sondern selbst aktiv zu werden. Wiegenlieder, die in allen Kulturen der Welt überraschend ähnliche Melodiekonturen aufweisen, sind u. a. Grundlage einer nonverbal emotionalen Verständigung. Wiegenlieder (Engländer nennen ein Wiegenlied "Lullaby", Franzosen "Berceuse", Italiener "Ninna Nanna", Türken "Ninni", Indonesier "Nina-Bobok", Finnen "Kehtolaulu") sind eine Form der Berührung zwischen Mutter und Kind vor dem Einschlafen, wobei deren Stil relativ unabhängig von der Zivilisation ist. Das Singen von Wiegenliedern war früher mit dem Schaukeln der Wiege verbunden, wobei die Frequenz des Schaukelns das Tempo des Liedes bestimmte. Wiegenlieder werden oft Jahrzehnte von Generation zu Generation weitergetragen und zum Fixpunkt kultureller Identität. Es ist nachgewiesen, dass sich viele Menschen, nach ihren ersten musikalischen Erlebnissen befragt, an den Gesang der Mutter oder Großmutter vor dem Einschlafen erinnern. Diese Emotionen prägen sich ein und werden wiedererkannt. Musikforscher haben Probanden im Labor Wiegenlieder der nordamerikanischen Zuniga-Indianer und der Hanunóo von den Philippinen hören lassen, wobei diese überdurchschnittlich oft auf einer Bewertungsskala als entspannt, zart, ruhig, weich, gelöst und zurückhaltend empfunden wurden. Wenn Mütter in Ghana, Peru, Belgien oder Laos ihren Kindern vorsingen, sind die Eigenschaften der Lieder sehr ähnlich. Wiegenlieder findet man auch in alten Dokumenten, wobei diese etwa zur Barockzeit mit Texten von hohem Kunstanspruch unterlegt waren, doch viele Wiegenlieder werden auch heute noch textlos vorgetragen, oft auf Silben wie lu-lu, na-na, bu-bu gesummt oder gebrummt, in der Tonhöhe moduliert und stets leise gesungen, weil das Entschlummern nicht gefährdet werden soll. Ein Wiegenlied erkennt man durch diese ähnlichen Muster an jedem Ort der Welt. Texte von Wiegenliedern werden meist ein Leben lang nicht vergessen, was zum einen am Wiederholungseffekt liegt, zum anderen speichert das Gehirn nachts das vor dem Einschlafen Gehörte ab. Kinder, die regelmäßig besungen werden, sind auch dauerhaft entspannter als solche, die auf diese Form der Musik verzichten müssen.

Äußerst positive Ergebnisse erzielten Modelle, bei denen Eltern und Kinder gemeinsam das Musizieren erlernten und praktizierten. Dazu bedarf es aber speziell geschulter Früh- und Frühsterzieher, die jedoch weder in Kindergärten noch in Grundschulen ausreichend eingesetzt werden. Dies ist umso bedauerlicher, weil seit Jahren bekannt ist, dass es für das Erlernen von Fähigkeiten so genannte neuronale Fenster (Zeiträume, in denen sich Anlagen besonders effektiv weiterentwickeln) gibt. Bei der Musik endet die intensivste Lernperiode mit dem 9. Lebensjahr, spätestens mit der Pubertät. Danach findet die für die Musikalität notwendige Vernetzung nicht mehr ausreichend statt.

Siehe dazu auch Sensible Phasen und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns

Sprachenlernen durch Singen

Ludke, Ferreira & Overy (2013) haben in einer Studie nachgewiesen, dass Singen das Erlernen von Fremdsprachen leichter macht. Sie erprobten dies an Ungarisch, das als eine schwierige Sprache gilt, denn im Vergleich zu germanischen und romanischen Sprachen hat Ungarisch als finnisch-ugrische Sprache eine völlig andere Struktur und einen anderen Klang. Für die Studie mussten sich die englischsprachigen ProbandInnen kurze ungarische Sätze anhören, wobei eine Testgruppe den Text nachsprach, während ihn eine andere sang und eine dritte Gruppe die ungarischen Sätze rhythmisch nachsprach. Dabei schnitten die Sänger beim Lerneffekt doppelt so gut ab, wobei die singende Gruppe die ungarischen Sätze auch genauer wiedergeben und länger behalten hatte. Auch der nachsprechende Gruppe gegenüber blieben die Sänger im Vorteil. Offensichtlich kann man Fremdsprachen besser lernen, wenn man die Texte zuerst hört und dann nachsingt. Ungeklärt ist allerdings, ob die Melodie zusätzliche Anhaltspunkte liefert und dem menschlichen Gedächtnis bei der Erinnerung an Wörter und Sätze in einer Fremdsprache hilft.

Literatur

Ludke, Karen M., Ferreira, Fernanda & Overy, Katie (2013). Singing can facilitate foreign language learning. Memory & Cognition, 41, 1-12.

Wie wirkt sich Musizieren auf menschliche Fähigkeiten aus?

Quellen

http://www.nachrichten.at/nachrichten/ ooen.asp?id=272399 (02-03-18)

http://pressetext.at/news/110422002/ musikschule-macht-sich-lebenslang-bezahlt/ (11-04-22)

Die Presse vom 14. Juli 2018

Kann Musikalität erlernt werden oder ist sie ausschließlich durch genetische Veranlagungen vorbestimmt? Diese und viele andere interessante Fragen, die das weite Spannungsfeld von "Mensch und Musik" zu hinterfragen versuchten, wurden kürzlich bei einem vom Salzburger Mozarteum veranstalteten Kongress von Musikpädagogen und Naturwissenschaftern erörtert. Das Problem war bisher, dass zwar aufgrund vieler Beobachtungsstudien positive Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern, gewisse Transfereffekte - wie geringere Aggressivität, höhere Sozialisation und Konzentration - und eben auch bessere schulische Leistungen feststellbar waren, dass aber bislang die Vorgänge im menschlichen Gehirn durch musikalische Betätigung kaum nachvollziehbar und damit die lediglich statistisch ausgewerteten Ergebnisse nicht wirklich beweisbar waren.

Psychologen und Musikwissenschaftler der University of Toronto konzentrierten sich bei der Frage, ob Musikalität angeboren oder erworben ist, auf die musikalische Kompetenz, die sie durch die Leistungen bei einem einfachen Test definierten: Den Probanden wurden zwei Abfolgen von Tönen bzw. Rhythmen vorgespielt, und diese mussten entscheiden, ob die beiden identisch waren oder ob es Unterschiede gab. Die musikalische Kompetenz war bei jenen Probanden höher, die über eine gewisse musikalische Ausbildung verfügten, doch als noch wichtiger erwies sich die Kombination von drei nicht-musikalischen Faktoren: der Offenheit der Persönlichkeit, der sozioökonomischen Lage und der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit (nonverbale Intelligenz und Kurzzeitgedächtnis). Vor allem zeigte sich, dass die Intelligenz auch für sich gesehen wichtiger war als eine etwaige musikalische Vorbildung.

Musik ist Kommunikation

Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Musik und Sprache, denn so sind die französische, die englische oder die tschechische Sprache durch bestimmte durchschnittliche Satzlängen und Sprechphasen charakterisiert, wobei sich die gleichen Phasenlängen in der französischen, englischen oder tschechischen Musik finden. Auch die Gehirnforschung liefert Hinweise für eine innere Verbindung von Musik und Sprache, denn aus der Hirnphysiologie zeigt sich, dass die Sprachregion nicht nur eine Sprachregion ist, sondern allgemeiner eine symbolische Gestenregion, in der musikalische und körperliche Gesten aber auch die Sprechgesten programmiert werden. Die Musik hat sich somit neben der Sprache als ein zweites, emotionales Kommunikationssystem des Menschen entwickelt, woran die Regionen des gesamten Gehirns beteiligt sind, wenn Menschen Musik hören oder selber machen.

Trotz verschiedener Forschungsansätze lassen sich nun einzelne Aspekte des Musiklernens als gegeben annehmen. So waren sich die Hirnforscher einig, dass aktives Musizieren wie keine andere Tätigkeit derartig dauerhaften Einfluss auf die Gehirnanatomie hat. Die gleichzeitige Anregung vieler Hirnareale führt - ständiges Training vorausgesetzt - einerseits zu einer intensiveren Vernetzung einzelner Hirnsysteme und andererseits zu einer Fokussierung und Ökonomisierung. Im Unterschied zu Laien werden bei Professionisten ganz andere Hirnregionen - auch solche, die Gedächtnis- und Kreativitätsleistungen erbringen - angesprochen, allerdings nur punktuell und daher wesentlich effizienter. Dadurch wird das Gehirn auch für andere Aufgaben leistungsfähiger. Deshalb ist wohl auch der Slogan, dass Musik intelligent macht, nicht ganz von der Hand zu weisen. Interessanterweise wurde durch die Naturwissenschafter auch die qualitative Unterscheidung zwischen E- und U-Musik nachgewiesen: Die positiven Vernetzungseffekte sind bei Schlager- und Popmusik kaum oder gar nicht vorhanden.

Wer seine motorischen Fähigkeiten etwa beim Erlernen eines Musikinstruments steigern möchte, sollte abends üben und morgens gut ausschlafen, sagen amerikanische Forscher der Harvard-Universität: Im Schlaf prägen sich nicht nur zuvor gelernte Vokabeln oder Gedichtverse besser ein, sondern auch komplizierte Bewegungsabläufe. Die Wissenschaftler stützen sich auf Experimente mit Versuchspersonen, die an einer Computertastatur bestimmte Tastenkombinationen möglichst schnell und präzise drücken sollten. Die Probanden, die abends vor dem Schlafengehen übten, waren zwölf Stunden später im Schnitt um 20 % besser. Bei der Vergleichsgruppe, die am Morgen geübt hatte, waren es hingegen nur 2 %. Am wichtigsten für das Vertiefen von Bewegungsabläufen sind die traumlosen Schlafphasen in der zweiten Nachthälfte, erläutert Mitautor Matter Walker. Wer morgens sehr früh aufstehe, dem fehle ein Teil dieser Phasen.
(Neuron, Ausgabe vom 3. Juli)

Wer als Kind ein Musikinstrument lernt, schult damit sein Gehirn für das ganze Leben, berichten Forscher der University of Kansas in der Zeitschrift "Neuropsychology". Sie konnten die Folgen des Musizierens im Kindesalter auch für das Seniorenalter dokumentieren, wobei mehrere Gehirnfunktionen durch den Instrumentalunterricht nachhaltig verbessert werden - was auch für Menschen gilt, die das Instrument nach der Schulzeit an den Nagel hängen. Die Forscher untersuchten 70 gesunde Erwachsene zwischen 60 und 83 Jahren, die sie je nach musikalischer Erfahrung in drei Gruppen gliederten. Der erste Teil von ihnen hatte länger als zehn Jahre hobbymäßig ein Instrument gelernt, der zweite weniger lange, der dritte gar nicht. Alle besaßen ähnliche Bildung und körperliche Verfassung und zeigten keine Demenz-Anzeichen. In kognitiven Tests schnitten diejenigen am besten ab, die als Kind ein Instrument gelernt hatten - besonders wenn es um das räumlich-visuelle Gedächtnis, um Objektbezeichnungen oder um die Anpassungsfähigkeit an neue Informationen ging. Allerdings können diese beobachteten Effekte teilweise auch durch ein unterstützendes Elternhaus, durch Ausdauer und gutes Selbstmanagement der Musikschüler beeinflusst sein. Dennoch schneiden Musikstudenten beim visuellen Gedächtnis oder bei Strategiebildungen besser ab als Kommilitonen aus der Medizin oder Psychologie. Zudem zeigen Schlaganfall-Patienten bei gleichem Schädigungsausmaß geringere Ausfälle, wenn sie früher musiziert haben, was vermutlich auf besser vernetzte Gehirnzellen zurückzuführen ist, die Kompensationen bei Ausfällen von Teilen des Gehirns erleichtern.

In einer Studie (Seither-Preisler & Schneider, 2013) wurden 150 Schüler mit und ohne Instrumentalunterricht über mehrere Jahre hinweg mit verschiedenen Messungen, psychologischen Tests und Kreativitätstest sowie Kernspintomografie untersucht, wobei sich zeigte, dass Kinder, die ein Instrument lernen, beim Zuhören, Lesen und Rechtschreiben Vorteile haben und Hyperaktivität und Impulsivität besser kontrollieren können. Darüber hinaus zeigte sich eine verbesserte Hörfähigkeit in besonders wichtigen Hörarealen des Gehirns, indem der rechte und linke Hörkortex bei musikalisch geübten Kindern praktisch synchron auf auditorische Reize reagierten, während diese bei untrainierten Kindern sie minimal zeitverschoben reagieren. Vor allem bei Kindern mit ADHS konnte eine markante Zeitverschiebung zwischen den beiden Hirnhälften festgestellt werden, was erklären könnte, warum auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen, ADHS und Lese-Rechtschreib-Schwäche häufig gemeinsam auftreten. Weiters konnte gezeigt werden, dass bei musizierenden Kindenr mit ADHS die gesteigerte Asynchronität der Hirnhälften verringert werden kann.

Welche Konsequenzen hat die Musikpädagogik aus diesen Erkenntnissen zu ziehen? Musik muss analog zum Spracherwerb als grundlegendes menschliches Kommunikationssystem gefördert werden. Hier sind besonders die Eltern aufgerufen, diese Aufgabe nicht technischen Hilfsmitteln zu überlassen, sondern selbst aktiv zu werden. Schließlich wird ja auch keine CD zum Erlernen der Muttersprache verwendet.

Wiegenlieder, die in allen Kulturen der Welt überraschend ähnliche Melodiekonturen aufweisen, sind u.a. Grundlage einer nonverbal emotionalen Verständigung. Äußerst positive Ergebnisse erzielten Modelle, bei denen Eltern und Kinder gemeinsam das Musizieren erlernten und praktizierten. Dazu bedarf es aber speziell geschulter Früh- und Frühsterzieher, die jedoch weder in Kindergärten noch in Grundschulen ausreichend eingesetzt werden.

Talent muss man fördern

Dies ist umso bedauerlicher, weil seit Jahren bekannt ist, dass es für das Erlernen von Fähigkeiten so genannte neuronale Fenster gibt. Das sind Zeiträume, in denen Kinder Anlagen besonders effektiv weiterentwickeln können. Im Fall der Musik endet die intensivste Lernperiode mit dem 9. Lebensjahr, spätestens mit der Pubertät. Danach findet die für die Musikalität notwendige Vernetzung nicht mehr ausreichend statt. Talent ist genetisch veranlagt. Wird es aber nicht von Geburt an gefördert, kann es sich nicht entfalten. Die Kultur- und Bildungspolitik sollte diese Aufgaben massiv unterstützen, damit Musik in all ihren Spielformen wieder zu einer Grundlage menschlicher Kommunikation werden kann. Das Sprechen mit und durch Musik als eine der höchsten Kulturleistungen überhaupt haben wir beinahe verlernt.

Literatur

Seither-Preisler, A. & Schneider, P. (2013). Transfereffekte von Musizieren auf auditive Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und den Lese-Rechtschreibbereich. Empirische Bildungsforschung zu Jedem Kind ein Instrument. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bielefeld, 14-16; 59-61.

Quellen zum Thema Gedächtnis

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WWW: http://home.t-online.de/home/Bertram.Koehler/Denken.htm
Kramar, Thomas (2001). "Alles, was zählt, dauert drei Sekunden" - Wie sich das Gehirn die Gegenwart strukturiert. Die Presse, 3.2., S. VIII.
Lange, Anne Katharina (o.J.) Das Korsakow-Syndrom.
WWW:http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/sonstiges/neuropsychologie/syndrome/korsakow.htm
Markowitsch, Hans .J. (1995). Anatomical basis of memory disorders. In M.S. Gazzaniga (Ed.), The cognitive neurosciences (pp. 665-679). Cambridge, MA: MIT Press.
Markowitsch, Hans .J. (1996). Neuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses. Spektrum der Wissenschaft, Sept., 52-61.
Markowitsch, Hans J. (1998). Das Gedächtnis des Menschen: Psychologie, Physiologie, Anatomie. In E.P. Fischer (Hrsg.), Mannheimer Forum 97/98: Gedächtnis und Erinnerung (S. 167-231). München: Piper.
Markowitsch, H.J. (1998b). Gedächtnisstörungen. Stuttgart: Kohlhammer.
Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.) (1995). Entwicklungspsychologie. Weinheim: PVU.
Markowitsch, H.-J., Matura, S. & Welzer, H. (2004). Die Entstehung des menschlichen Gedächtnisses. Stuttgart: Klett-Cotta.
Oddo, Silvia, Schwab, Anna & Welzer, Harald (2002). Erinnerung und Gedächtnis &endash; ein Werkstattbericht.
WWW: http://www.memory-research.de/index2.htm (04-05-25)
Schultz, Wolfram (1993). Lernen, Gedächtnis und Gehirn.
WWW: http://www.unifr.ch/spc/UF/93mai/schultz.html (00-05-25)
Welzer, H. (2002). Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck.
http://www.geo.de/themen/medizin_psychologie/gedaechtnis/gedaechtnis_02.html (01-11-26)
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/?section=wissen&myTM=full&id=955390503.33273&myTime=20000411122254 (01-12-24)
http://www.sueddeutsche.de/250383/985/2795506/Ein-Affe-plant-den-Aufstand.html (09-03-11)



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