[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Magersucht (Anorexia Nervosa)*)

Literatur

Gerlinghoff, M. & Backmund, H. (2000). Was sind Ess-Störungen. Ein kleines Handbuch zur Diagnose, Therapie und Vorbeugung. Weinheim: Beltz.

Gruber, Ursula (2006). Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Johannes Kepler Universität Linz: PPP der jku.

Karwautz, Andreas (2001). Konzepte der stationären Behandlung von Essstörungen im Jugendalter. Ein kritischer Überblick. Online: www.univie.at/neuropsychiatrie/
docs/anstationaertherapiena/2001.pdf
(06-06-27)

Lamers, L. & Mann, R. (Hrsg.) (2004). Essstörungen. Arbeit mit Selbsthilfegruppen. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Ludwig Boltzmann Institut für Frauengesundheitsforschung (2004). HBSC Factsheet Nr. 4.Die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern. Wien: Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Online: http://www.univie.ac.at/lbimgs/
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Habermas, Tilmann (2002). Substanzenmissbrauch und Ess-Störungen. In Oerter, R.; Montada, L. (Hrsg), (2002), Entwicklungspsychologie (S. 847 – 858). Weinheim: Beltz.

Stangl, W. (2004): Arbeitsblätter. Online: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/
SUCHT/Essstoerungen.shtml
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Die Magersucht wurde schon um 1880 von Ärzten beschrieben Seit den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahmen die Erkrankungen deutlich zu, seit den 80er-Jahren ist die Zahl der Betroffenen etwa gleich bleibend hoch. Heute leiden nach Schätzungen rund 0,8 Prozent aller 15- bis 35-Jährigen an dieser Krankheit.

Krankheitsbild

Nach dem Klassifikationssystem der WHO "International Classification of Diseases" (ICD) weist sich eine Magersucht durch folgende Kriterien aus:

In der Regel empfinden sich Betroffene als zu dick, auch wenn sie bereits an erheblichem Untergewicht leiden. Deshalb sind insbesondere auffallend dünne/untergewichtige Jugendliche als Betroffene relevant, wenn sie trotzdem eine gewisse Unzufriedenheit mit Figur und Gewicht attestieren (vgl. Diehl 1999, S. 171). Eine (weitere) Gewichtsabnahme wird zum Inhalt allen Denkens und Handelns, dies geht einher mit übertriebener körperliche Aktivität und körperlichen Funktionsstörungen (Haarausfall, Zahnverlust, Ohnmacht etc.) (HBSC Factsheet4 2004, S. 2f).

In der Biographie von Magersüchtigen finden sich häufig Einflüsse aus der Herkunftsfamilie oder von anderen bedeutsamen Bezugspersonen. So haben Betroffene, die eine Magersucht entwickeln, oft schon früh viel Verantwortung für andere übernommen, etwa für die eigenen Eltern, haben sich dabei mit einem Elternteil verbündet oder werden von ihren Eltern emotional und psychisch missbraucht, nicht selten als Partnerersatz, als Vorzeigekind oder zum Bewältigen einer unglücklichen Ehe. Schon früh mussten sie dabei einem bestimmten Bild der Eltern entsprechen und eigene Bedürfnisse und Gefühle zurückstellen, wodurch sie durch das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse eine Angst vor der Welt und einem unabhängigen Leben außerhalb der Familie entwickeln. In nicht wenigen Fällen tritt die Magersucht auch bei homosexuellen Männern auf, wobei hier die die Ablehnung der eigenen Homosexualität zur Selbstabwertung, zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und einer inneren Leere einhergehen kann, d. h., die Betroffenen versuchen ihre psychischen Probleme durch die Erkrankung zu kompensieren. Letztlich neigen Magersüchtige zu Perfektionismus und rigidem Denken, haben Angst vor Kontrollverlust und schränken ihr Leben auf die Themen von Ernährung und eigene Körperlichkeit ein, sie leben sozial zurückgezogen und entwickeln in dieser Hinsicht zwanghafte, depressive, histrionische und narzisstische Züge.

Der allgemein verwendete Terminus "Anorexia nervosa" (griech. Appetitlosigkeit) ist daher unzutreffend, denn es handelt sich bei dieser psychischen Erkrankung gerade nicht um Appetitlosigkeit, sondern Magersüchtige sehnen sich nach dem Essen, aber die Sucht nach Schlankheit bzw. die Angst trotz objektiven Untergewichts zuzunehmen erweisen sich als stärker. Aus unzähligen Publikationen und Erfahrungsberichten von Magersüchtigen ist bekannt, dass sie im Verlauf ihrer Krankheit zunehmend mit immer mehr Lebensmitteln beschäftigt sind. Im Supermarkt begutachten sie diese, um sich vorzustellen, wie köstlich sie doch schmeckten. Magersüchtige kochen gerne für andere die aufwendigsten Gerichte, die sie selbst aber nicht anrühren.

Es gibt zwei Formen der Magersucht: bei der ersten Magersucht-Variante schränken die Betroffenen ihre Nahrungsaufnahme extrem ein, bei der zweiten Variante erbrechen die Magersüchtigen einen Teil der Nahrung wieder. Diese zweite Form der Magersucht unterscheidet sich von der Bulimie dadurch, dass die Patienten keine „Fressanfälle“ haben, sondern ohnehin nur wenig Nahrung aufnehmen. Die erste Form ist nach einer Studie von Ruth E. Urwin et al. (Westmead, Australien) möglicherweise erblich bedingt, denn bei einer Überprüfung von Magersüchtigen, die kaum etwas essen, und deren Eltern zeigte sich, dass die Eltern eine bestimmte Genvariente an ihre Kinder weitergeben.
Quelle
: Molecular Psychiatry (2002), Vol. 7, No. 6, pp. 652 – 657.

Viele Magersüchtige berichten, dass die eingestreuten Hungerkuren immer wieder von Heißhungerattacken unterbrochen sind, in denen sie massenhaft Lebensmittel in sich hinein stopfen, jedoch ohne danach zu erbrechen - mit Ausnahme der Mischform der bulimischen Magersucht. Um diese "Sünden" wieder auszugleichen, wird das Hungern gleich wieder fortgesetzt bzw. das Gegessene mit Abführmitteln und extremer sportlicher Betätigung so schnell wie möglich wieder abgebaut - siehe dazu die Anorexia athletica (Sport-Sucht). Bis zu 15 Prozent aller Magersüchtigen sind Männer, was durch die Ausübung gewisser am Körperlichen orientierter Sportarten gefördert wird. Diese Gier nach Muskeln wird manchmal auch als Adonis-Komplex bezeichnet.

Diagnose

Magersucht wird definiert als "selbst herbei geführtes, substantielles Untergewicht, welches nicht auf andere körperliche od. seelische Krankheiten zurück zu führen ist" (Habermas 2002, S. 848). Sie tritt in den beiden Unterformen der restriktiven sowie der bulimischen Anorexie auf, wobei erstere asketisches Fasten und damit kombinierte exzessive körperliche Aktivität bezeichnet, zweitere den Einbezug selbst herbei geführten Erbrechens und der Abführmitteleinnahme  umschreibt (vgl. Habermas 2002, S. 848).

Voraussetzung eines jeglichen medizinischen oder therapeutischen Eingreifens ist in erster Linie die Diagnose, die Feststellung eines bereits krankhaften Ernährungsverhaltens. Diese wird in der Regel aber sehr spät – bei eindeutigen körperlichen Anzeichen, wenn überhaupt – gestellt. Kranke versuchen, diesen Zeitpunkt auch bei gravierender Unterernährung, mittlerweile negativem Feedback der Außenwelt und auch erneuter Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper angesichts der armseligen Dünnheit hinaus zu zögern. Die Betroffenen beginnen, sich schlabbrig zu kleiden, sich aus sozialen Kontakten zurück zu ziehen, einzuigeln. Die Kranken stehen nunmehr nicht mehr in Kontakt zu ihrem Körper; der Körper ist Feind, der bekämpft werden muss (vgl. Lamers & Mann 2000,  S. 16f).

Eine Magersucht beginnt stets "harmlos" mit Durchführen einer, dann mehrerer Diäten. Die Betroffenen spüren und äußern anfangs die bei Verzichtsgefühlen übliche Unzufriedenheit, sie bringen aber den Willen auf, eine Zeit lang auch ohne sichtbare Resultate durch zu halten. Erfahrungsgemäß beginnen die PatientInnen dann nach den ersten sichtbaren und von anderen artikulierten Abnahmeerfolgen, den Umfang des Nahrungsverzichts auszubauen, ihre Bewegungsfrequenz zu steigern. Nahrungsmittel werden in "erlaubte" und "verbotene" unterteilt, was sich nach Kaloriengehalt, Anteil an Kohlehydraten oder Fetten richtet und weitgehend den immer rigideren, eigenen Regeln der Abnehmenden folgt. Der Übergang zur Suchtkrankheit ist fließend. Das Verzichtgefühl wird aufgrund der positiven Resonanz des Umfeldes, der beglückenden Wirkung von Erfolg und Sieg, Macht und Selbstkontrolle (Autonomie, Unabhängigkeit) so lange verdrängt, bis es teilweise tatsächlich nicht mehr empfunden wird.

An Stelle des "Neinsagen-Wollens" tritt im Laufe der Zeit (Monate oder Jahre) ein "Neinsagen-Müssen". Betroffene entwickeln bereits morgens eine panische Angst, ihren Essplan während des Tages nicht einhalten zu können, der Albtraum einer Gewichtszunahme - wenn auch auf das normale Körpergewicht – löst ein perfektionistisches Bestreben der Reduktion aus. Dieses Kasteien bezieht sich nicht selten auch auf andere Lebensbereiche (Schlafstörungen, Eigenbrötlerei, Leistungswahn, Fehlen sozialer Kontakte, kein Gestatten jeglicher "Freude" oder Emotion) aus. Während einer Diät erreichte Gewichtsziele werden stets nach unten versetzt, um einen "Sicherheitsabstand" zum Normalgewicht zu erreichen (vgl. Habermas 2002, S. 13).

Trotz oder gerade aufgrund der unglaublichen Selbstdisziplin Magersüchtiger, gepaart mit dem nach und nach eintretenden Mangel an diversen Nährstoffen und Nahrungsmitteln, finden die Abhängigen nichts interessanter als Lebensmittel in allen Formen. Das Essen ist zum wirklichen Lebensmittelpunkt, zum einzigen Genuss, Thema, "Hobby" und Interesse geworden. Nichts anderes macht mehr Freude oder stiftet Sinn für die Erkrankten, die liebsten Beschäftigungen beschränken sich auf die Auseinandersetzung mit den verweigerten aber unvorstellbar anziehenden "Kalorien". Mit Tätigkeiten wie Einkaufen, Kochbücher lesen oder sich mit der Nahrungsaufnahme anderer beschäftigen können sich Erkrankte stundenlang auseinandersetzen, während andere Aktivitäten bei ihnen Langeweile, Ungeduld oder gar Aggression auslösen. Der Gedanke an Speisen löst in fort geschrittenem Krankheitsstadium in den Geplagten ganz intensive Emotionen, vergleichbar mit sexueller Erregung, aus. Während sonstige libidöse Neigungen in zunehmendem Maße verkümmern, füllt das Essen sämtliche Sinne der Kranken, ebenso wie Träume und Phantasien. Nahrung wird zum Sinnbild jeglicher Befriedigung und Freude.

Magersüchtige kochen außerdem gerne, liebevoll und stets reichhaltig für ihre Angehörigen, essen selbst aber so gut es geht nicht mit  (vgl. Lamers & Mann, 2000, S. 14ff).

Schaufensterpuppen und Models als Vorbilder

Schaufensterpuppen befördern das Ideal der ultra-dünnen Körper und tragen so zum Entstehen von Essstörungen bei, denn Schaufensterpuppen sollen zum Kauf von Kleidern, T-Shirts oder Jeans anregen. Bei einer Untersuchung der Körperstatur von 58 Puppen aus britischen Shops zeigte sich: wären Frauen so dünn wie die durchschnittliche Schaufensterpuppe, wäre ihre Gesundheit ernsthaft gefährdet. Dieses Schönheitsideal, das überall vermittelt wird, ist irreal, denn die durchschnittliche weibliche Konfektionsgröße ist 42, die Puppen haben Größe 32 und damit Size Zero, sind also eine Verzerrung der Realität, die gerade Mädchen in der Pubertät enorm unter Druck setzt. Jedoch nicht nur die Plastikpuppen in den Schaufenstern sind zu dünn, auch die Models auf den Laufstegen dieser Welt leiden fast alle an Untergewicht.

Nach dem Hungertod eines Models haben Regierung, Modeverbände und die Organisatoren der italienischen Modenschauen Ende 2009 ein Manifest gegen Magersucht verfasst, das von allen Teilnehmerinnen ein ärztliches Attest verlangt, dass sie unter keiner Essstörung leiden. Auch auf der London Fashion Week 2010 galten erstmals diese Bestimmungen. Der durch seine Benetton-Werbefotos berühmte Fotograf Oliviero Toscani veröffentlichte Schockfotos zum Thema Magersucht in der Zeitung La Repubblica, wo auf zwei Seiten die Anzeige der italienischen Modemarke "No-l-ita" gezeigt wurde, die den nackten Körper eines magersüchtigen Mädchens zeigt. Diese von Toscani fotografierte Kampagne gegen Anorexie soll später in den Städten auf Plakatwänden fortgesetzt werden.

Menschen vergleichen sich spontan mit den Models und diese sozialen Vergleiche beeinflussen, wie Menschen sich selbst sehen und sich verhalten. Eine Untersuchung an mehreren Universitäten (Universität Köln, der Arizona State Universität und der Erasmus-Universität in Rotterdam), bei der man normalgewichtigen Frauen Bilder von extrem schlanken und leicht übergewichtigen Models vorlegte, ergab, dass übergewichtige Probandinnen immer ein niedriges Selbstwertgefühl hatten, unabhängig davon, welcher Modeltyp ihnen auf dem Bild gezeigt wurde. Überraschend war nur, dass ganz dünne Models normalgewichtigen Frauen beim Betrachten ein höheres Selbstwertgefühl geben als moderat mollige Models. Ein anderes Experiment der Studie zeigt, dass normalgewichtige Menschen nach dem Betrachten von Werbeanzeigen weniger Kekse essen, wenn sie extrem dünne Models in der Werbung sehen, als wenn extrem mollige Models in der Werbung auftauchen.

Auch im Internet werben hunderte Websites für Essstörungen, auf denen Interessierte Tipps finden, wie sie möglichst schnell viel abnehmen, wie sie eine Magersucht vor der Familie verbergen und wie man am besten nach dem Essen erbricht. Einige dieser Seiten enthalten gefährliche Ideen und verstörendes Material, die die NutzerInnen dazu motivieren sollen, ihr essgestörtes Verhalten beizubehalten.

Neuer Trend: Thigh Gap - die Schenkel-Lücke

Eine spezielle Form der Magersucht entwickelt sich aus dem Trend zur Schenkel-Lücke - Thigh Gap, wobei damit damit die Lücke zwischen den weiblichen Oberschenkeln, die im Stand bei geschlossenen Beinen entsteht. Bsonders jungen Mädchen gefällt dieses Körpermerkmal, denn das Internet wird mit solchen Lücke-Fotos überschwemmt, wobei schon Mädchen ab zwölf Jahren ihre mageren Beine posten. Damit entwickelt sich das Phänomen Thigh Gap zu einer ernsthaften Problematik, denn Teenager stehen durch die sozialen Netzwerke unter einem großen Druck, da sie diese mit einer Bildkulturwelt konfrontiert, die Ideale schafft, die mit dem normalen Leben nichts mehr zu tun haben. Vom medizinischen Standpunkt aus ist die begehrte Oberschenkel-Lücke gefährlich, denn bei Normalgewicht gibt es keine Lücke, sodass Mädchen zu hungern beginnen, über Monate exzessiv im Fitnessstudio trainieren und danach die Beweisfotos ins Netz stellen. Neunzig Prozent der Frauen könnten diese Lücke rein anatomisch kaum erreichen, denn nur wer leichte O-Beine hat, kann diesem absurden Schönheitsideal näher kommen. Manche Mädchen schnüren sich auch die Oberschenkel mit festen Pflastern und Bandagen, um in Jeans dünner zu erscheinen, wodurch Durchblutungsstörungen entstehen können. Wie bei anderen Essstörungen wird der Selbstwert mancher Mädchens zerstört, denn durch den narzisstischen Umgebungsdruck lassen sich viele junge Menschen mitreißen und tun nach Ansicht von Experten Dinge, die rational nicht erklärbar seien.

Empfehlung: DVD Ana Ex

Die DVD des Instituts für systemische Therapie "Ana Ex" bringt Betroffenen, ihren Angehörigen und Fachleuten dieses ernste Thema spielerisch näher und unterstützt bei der Bewältigung der Krankheit. "Ana Ex" kann auch in der Präventionsarbeit, Jugendarbeit, Schule und in der Angehörigenbegleitung genutzt werden. "Ana Ex" unterstützt die Methode der Externalisierung, d.h., sie hilft den Betroffenen, sich von den "problembehafteten" Beschreibungen ihres Lebens zu lösen und macht Ressourcen sichtbar, die ermöglichen, als Familie, Gruppe, oder Team gegen das Symptom vorzugehen. "Ana Ex" ist die personifizierte Anorexie, verkörpert von einer Puppe. Im Gespräch mit einer Therapeutin plaudert sie aus der Schule und beantwortet bereitwillig Fragen. Welchen Einfluss hat sie auf das Leben junger Menschen? Wer unterstützt sie, wenn sie ihre Macht vergrößert? Welche Strategien setzt sie ein, um das betroffene Mädchen, den betroffenen Jungen von anderen zu isolieren? Weniger bereitwillig als viel mehr widerwillig antwortet "Ana Ex", wenn es um ihre Schwachpunkte, um ihre Feinde, um ihr Scheitern geht. Doch dank des hartnäckigen Nachfragens der Therapeutin verrät sie, wie Betroffene, deren Familien und Helferinnen erfolgreich den Kampf gegen sie gewinnen können.

 

Weitere körperliche und verhaltenstechnische Symptome

Wie erwähnt zeigen Magersüchtige keine Krankheitseinsicht, der körperliche Verfall, die akute gesundheitliche Bedrohung wird geleugnet. Grund hierfür ist die panische Angst, Der- oder Diejenige, dem/der sich die Erkrankten anvertrauen, könnten versuchen, die offensichtlich Gefährdeten in Hinkunft am Fasten zu hindern oder das Essverhalten der Betroffenen rigider zu kontrollieren (vgl. Habermas 2002, S. 848). 

Im persönlichen Kontakt mit Kranken, vor allem in Gesprächen, fallen von Magersucht Eingeschränkte, meist im gravierenden Gegensatz zu ihren früheren Einstellungen, Verhaltensweisen und Haltungen, durch Schwarzweiß-Denken, depressive Verstimmungen, das Sprechen mit leiser Stimme und Kraftlosigkeit auf. Die seelisch und körperlich Geschwächten reagieren auf kleinste Konflikte mit Weinen, Verzweiflung und Entscheidungsunfähigkeit. 

Zusätzliche Diagnosekriterien bilden eine offensichtliche Hyperaktivität und übersteigerter Perfektionismus in allen Tätigkeitsbereichen.  Eine Schulkarriere, ein Studium wird mit gleicher Hingabe betrieben wie beispielsweise auch der Abwasch nach dem Essen oder das gesamte Abnehmprogramm. Dabei werden die Betroffenen zwar meist den Anforderungen der Außenwelt (Lehrkräfte, Dozenten, Familie) bei Weitem gerecht, nicht aber den eigenen Ansprüchen, welche bewusst in astronomischen Höhen angesiedelt werden. Seelische Folgen dieses permanenten "Scheiterns" sind Selbsthass, Verzweiflung, empfundene Aussichtslosigkeit und übertriebener Geiz sowie ein starkes Kontrollbedürfnis, welches durch die Unfähigkeit, Ungeplantes locker hin zu nehmen, nach außen hin bemerkbar wird.

Diese psychischen, bei Kenntnis der Sachlage eigentlich relativ klar erkennbaren Symptome treten im Allgemeinen rascher auf als eindeutige körperliche Anzeichen einer Magersucht. Folgeerscheinungen körperlichen Mangels zeigen sich meist erst nach Monaten gravierender Nährstoffdysbalancen, welchen die Betroffenen alle erdenklichen Mittel aus Angst vor dem "Entdecktwerden" entgegen setzen. Trockene Haut, brüchige Haare und hormonelle Veränderungen gehören ebenso zu den Begleiterscheinungen einer fortgeschrittenen Sucht, wie eine massive Veränderung der Körperbehaarung in Form einer so genannten Flaumbehaarung an Unterarmen, dem Rücken und an Teilen des Gesichtes (vgl. Lamers & Mann 2000, S. 17).

Beckmann et al. (2021) haben gezeigt, dass Menschen mit Anorexia nervosa ein gestörtes Verhältnis zu den Ausmaßen ihres Körpers haben, wobei neben dem bewussten Körperbild auch das Körperschema gestört ist, also das unbewusste Körpergefühl. Normalerweise passt sich dieses Körpergefühl den aktuellen Gegebenheiten an, doch bei Menschen mit Anorexie kann es auf dem Stand vor dem Beginn der Erkrankung stehen bleiben. Schon länger ist bekannt, dass Betroffene die Ausmaße ihres Körpers überschätzen, wobei sich diese Diskrepanz vor allem auf den bewussten Teil der Körperwahrnehmung bezieht. Um dem unbewussten Teil der Körperwahrnehmung auf die Spur zu kommen, entwickelte man einen Versuch, an dem Menschen mit Anorexie und gesunde Probanden teilnahmen. Das Experiment bestand darin, die Versuchspersonen durch Türrahmen unterschiedlicher Breite gehen zu lassen, wobei die Öffnung dabei an die Schulterbreite der Probandinnen und Probanden angepasst war und zwischen dem 0,9-fachen und dem 1,45-fachen dieser Breite variierte, so dass man beobachten konnte, ab welcher Türbreite sich die Teilnehmenden seitlich wegdrehten, bevor sie die Tür passierten. Es zeigte sich, dass die von Anorexie Betroffenen ihre Schultern schon bei deutlich breiteren Türen zur Seite wegdrehen als gesunde Kontrollpersonen, was bedeutet, dass sie auch unbewusst ihre Ausmaße größer einschätzen als sie wirklich sind. Die Tendenz zum frühen Wegdrehen korrelierte auch mit einer negativen Einschätzung des eigenen Körpers, die in Fragebögen erhoben worden war. Um diese gestörte unbewusste Körperwahrnehmung positiv zu beeinflussen und das eventuell veraltete Körperschema wieder den aktuellen körperlichen Ausmaßen anzupassen, empfiehlt sich neben einer kognitiven Verhaltenstherapie möglicherweise auch den Einsatz virtueller Realität, denn damit könnten die Betroffenen virtuell für eine gewisse Zeit in den Körper einer oder eines anderen schlüpfen und damit die unbewuste Repräsentation ihres Körpers verändern.

Magersucht führt zu neuronalen Veränderungen im Gehirn

Magersucht wird auch zunehmend als neuronale Entwicklungsstörung gesehen, da die Krankheit meist in der Pubertät erstmals auftritt, was eine für die Gehirnreifung wichtige Phase darstellt. Hans-Christoph Friederich, Leiter der Arbeitsgruppe Essstörung an der Heidelberger Universitätsklinik für Psychosomatik und Allgemeine Klinische Medizin, berichtet 2009 im "American Journal of Psychiatry", dass Anorexie-Patientinnen große Probleme haben, sich auf Neues einzulassen bzw. leiden häufig unter hohem Perfektionismus. Eine mögliche Ursache dafür sind neuronale Vorgänge, wie man an 30 Frauen, die teilweise an Anorexie litten, mittels Magnetresonanztomographie (MRT) nachweisen konnte. In einem Experiment ließ man sie kurzfristig die schnelle Zuordnung geometrischer Figuren einüben, ehe in einem zweiten Teil der Untersuchung die Zuordnungsregeln plötzlich geändert wurden. Magersuchtkranke hielten dabei häufiger und länger als gesunde ProbandInnen am vertrauten Muster fest und unterdrückten alternatives Verhalten. Bei Anorexie-Erkrankten zeigte sich dabei eine Störung des fronto-striatalen Schleifensystems, das für die Einleitung und Kontrolle von Handlungen wichtig ist, wenn sich Umweltbedingungen rasch verändern. Magersüchtige halten vielleicht auch deshalb an ihrem Essverhalten auch gegen den eigenen Willen fest, da bei ihnen Veränderungen im Gehirn einen Wechsel eingeübter Routinen erschweren. Daher versucht man in einer Art Probetherapie mit Magersucht-Patientinnen gezielt das Auflösen von Ritualen, Abläufen und Strukturen zu trainieren und hofft so auf eine Auflösung lange trainierter Essensmuster.

Wenn jemand erst einmal eine Magersucht entwickelt hat, haben das Hungern und die Fehlernährung auch tief greifende Auswirkungen auf das Gehirn und andere Organsysteme. Zu diesen Veränderungen gehören neurochemische Ungleichgewichte, die dann wiederum die schon bestehenden Wesenszüge übertrieben verstärken und das Fortschreiten der Erkrankung beschleunigen können. Bei Menschen mit Magersucht vermindert paradoxerweise das Fasten ihre Ängste, während Essen diese verstärkt. Diese Angst zu vermeiden, treibt bei der Anorexia nervosa den Gewichtsverlust voran und löst diese unkontrollierte Spirale aus, die Abmagerung und Fehlernährung zur Folge hat. Menschen mit Anorexia nervosa neigen auch dazu, nicht so sehr im Augenblick zu leben, sondern zeigen eine übertriebene und zwanghafte Sorge um die Folgen ihres Verhaltens, d.h., sie suchen nach Regeln, wo es keine gibt, und machen sich allzu viele Gedanken darüber Fehler zu begehen. Imagingstudien deuten darauf hin, dass Menschen mit Magersucht ein Ungleichgewicht zwischen Abläufen im Gehirn, die Belohnung und Emotionen regulieren (der ventrale oder limbische Schaltkreis) und solchen, die mit Konsequenzen und Vorausplanung assoziiert sind (der dorsale oder kognitive Schaltkreis) haben.

Nach einer Studie des Neuropsychologen Boris Suchan (Ruhr-Universität Bochum), 2010 veröffentlicht in der Zeitschrift "Behavioural Brain Research", weisen 15 magersüchtige Frauen im Vergleich mit 15 gesunden Frauen ähnlichen Alters eine deutlich reduzierte Dichte an grauen Zellen auf, und zwar in jenen Gehirnzentren, die mit der Verarbeitung von Körperbildern zu tun haben. Diese Auffälligkeiten im Gehirn könnten nach Einschätzung der Forscher die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers bei Frauen mit Essstörungen erklären, d.h., betroffene Frauen nehmen sich selbst als dick wahr, obwohl sie objektiv untergewichtig sind, was eine Behandlung der Essstörung erschwert. Allerdings ist bei magersüchtigen Patientinnen auf Grund ihrer Krankheit auch das gesamte Volumen des Gehirns verringert, wodurch ungeklärt bleibt, ob die geringere Dichte der grauen Zellen Ursache oder Folge der Magersucht ist.

Frühe Behandlung bei Anorexie nervosa ist entscheidend

Das Muster der strukturellen Hirnanomalien bei Anorexia nervosa ist noch immer nicht gut verstanden. Mehrere Studien berichten über erhebliche Defizite des Volumens der grauen Substanz und der kortikalen Dicke bei akut untergewichtigen Patienten, während andere Studien keine Unterschiede oder sogar eine Zunahme bei Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen feststellen. Eine kürzliche Gewichtszunahme vor der Untersuchung könnte einen Teil dieser Heterogenität erklären. Um das Ausmaß, die Größenordnung und die Abhängigkeiten der Veränderungen der grauen Substanz bei Anorexia nervosa zu klären, haben Walton et al. (2022) eine prospektive, koordinierte Meta-Analyse von multizentrischen Neuroimaging-Daten durchgeführt. In der Studie wurden fast zweitausend bereits vorhandene Gehirnscans von Menschen mit Magersucht, von Menschen in Behandlung und von gesunden Kontrollpersonen (Menschen, die weder an Magersucht leiden noch in Behandlung sind) zusammengefasst. Die Studie ergab, dass bei Menschen, die sich von der Magersucht erholt hatten, die Beeinträchtigungen der Gehirnstruktur weniger schwerwiegend waren, was darauf hindeutet, dass das Gehirn bei angemessener frühzeitiger Behandlung und Unterstützung in der Lage sein könnte, sich selbst zu reparieren. Sie zeigte aber, dass Menschen mit Anorexie beträchtliche Verringerungen in drei wichtigen Bereichen des Gehirns aufweisen: kortikale Dicke, subkortikales Volumen und kortikale Oberfläche. Eine Verringerung der Hirngröße ist von großer Bedeutung, da man davon ausgeht, dass sie den Verlust von Hirnzellen oder der Verbindungen zwischen ihnen impliziert. Diese Ergebnisse gehören zu den bisher eindeutigsten, die einen Zusammenhang zwischen strukturellen Veränderungen im Gehirn und Essstörungen aufzeigen, wobei die Effektgrößen in ihrer Studie für Magersucht tatsächlich die größten aller bisher untersuchten psychiatrischen Störungen sind. Das bedeutet, dass Menschen mit Anorexie zwei- bis viermal so große Verkleinerungen der Gehirngröße und -form aufwiesen wie Menschen mit Erkrankungen wie Depression, ADHS oder Zwangsstörungen. Die bei Anorexie beobachteten Veränderungen der Gehirngröße könnten auf einen niedrigeren Body-Mass-Index (BMI) zurückzuführen sein. Allerdings hat man auch festgestellt, dass die starken Verkleinerungen der Gehirnstruktur, die man bei Patienten beobachtet hatte, bei Patienten, die sich bereits auf dem Weg der Besserung befinden, weniger auffällig waren. Das ist ein gutes Zeichen, denn es deutet darauf hin, dass diese Veränderungen möglicherweise nicht dauerhaft sind, d. h., mit der richtigen Behandlung könnte sich das Gehirn wieder erholen. Daher ist eine frühzeitige Behandlung wichtig, um Menschen mit Magersucht zu helfen, langfristige strukturelle Gehirnveränderungen zu vermeiden. Die derzeitige Behandlung umfasst in der Regel Formen der kognitiven Verhaltenstherapie und vor allem eine Gewichtszunahme. Viele Menschen mit Magersucht werden erfolgreich behandelt, und diese Ergebnisse zeigen die positiven Auswirkungen einer solchen Behandlung auf die Gehirnstruktur.

Literatur

Beckmann, N., Baumann, P., Herpertz, S., Trojan, J. & Diers, M. (2021). How the unconscious mind controls body movements: Body schema distortion in anorexia nervosa. International Journal of Eating Disorders, doi:10.1002/eat.23451.

Shaw, Rose & Knollmeyer, Sarah (2009). Was findet bei Magersucht im Kopf statt?
http://www.praxis-dr-shaw.de/blog/2009/10/05/was-findet-bei-magersucht-im-kopf-statt/ (09-10-06)

Smeesters, Dirk, Mussweiler, Thomas & Mandel, Naomi (2010). The Effects of Thin and Heavy Media Images on Overweight and Underweight Consumers: Social Comparison Processes and Behavioral Implications. Journal of Consumer Research, 36, 930.

Stangl, W. (2022, 17. Juni). Frühe Behandlung bei Anorexie nervsa entscheidend . Psychologie-News.
https://psychologie-news.stangl.eu/4233/fruehe-behandlung-bei-anorexie-nervsa-entscheidend.

Walton, Esther et al. (2022). Brain Structure in Acutely Underweight and Partially Weight-Restored Individuals with Anorexia Nervosa – A Coordinated Analysis by the ENIGMA Eating Disorders Working Group. Biological Psychiatry, doi:10.1016/j.biopsych.2022.04.022.

http://www.sueddeutsche.de/leben/537/419301/text/ (10-01-20)

http://orf.at/stories/2008615/2008668/ (10-08-14)

Oberösterreichische Nachrichten vom 26. November 2013.

http://www.nachrichten.at/nachrichten/gesundheit/Duerr-wie-eine-Schaufensterpuppe;art114,2560682 (17-05-11)


Siehe auch


Quelle: Diese Arbeitsblätter entstammen der Studie von Ursula Gruber "Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention".



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