[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Adipositas bei Kindern

Literatur

 

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Folkvord, F., Anschütz, D. J., Boyland, E., Kelly, B. & Buijzen, M. (2016). Food advertising and eating behavior in children. Current Opinion in Behavioral Sciences, 9, 26–31.

Gruber, Ursula (2006). Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Johannes Kepler Universität Linz: PPP der jku.

Kantonen, Tatu, Pekkarinen, Laura, Karjalainen, Tomi, Bucci, Marco, Kalliokoski, Kari, Haaparanta-Solin, Merja, Aarnio, Richard, Dickens, Alex M., von Eyken, Annie, Laitinen, Kirsi, Houttu, Noora, Kirjavainen, Anna K., Helin, Semi, Hirvonen, Jussi, Rönnemaa, Tapani, Nuutila, Pirjo & Nummenmaa, Lauri (2021). Obesity risk is associated with altered cerebral glucose metabolism and decreased μ-opioid and CB1 receptor availability. International Journal of Obesity, doi:10.1038/s41366-021-00996-y.

Roth, Binia (2004). Psychologische Aspekte der kindlichen Adipositas und ihre Behandlug. Pediatrica, 15, 24-26.

Shaw, Rose (2010). Depressive Symptome und Übergewicht bei Teenagern: Was ist der Zusammenhang?
WWW: http://www.praxis-dr-shaw.de/
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Stangl, W. (2018). Stichwort: 'Adipositas'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/24/adipositas/ (2018-06-16)

https://www.bmgf.gv.at/home/
Ernaehrungsbericht2017 (17-11-09)

Urlacher, Samuel S., Snodgrass, J. Josh, Dugas, Lara R., Sugiyama, Lawrence S., Liebert, Melissa A., Joyce, Cara J. & Pontzer, Herman (2019). Constraint and trade-offs regulate energy expenditure during childhood, Science Advances, doi:10.1126/sciadv.aax1065.

https://science.orf.at/stories/2996050/ (19-12-19)

 


Fettleibigkeit

Der Ernährungsbericht Österreich 2017 (nach der Methode der WHO Europa) besagt, dass etwa 30 Prozent der Buben in der dritten Schulstufe übergewichtig oder gar adipös sind, während bei den Mädchen die Rate etwas geringer ist und von 21 Prozent im Westen und Süden Österreichs bis zu 29 Prozent im Osten reicht. Demnach steht Leben in der Stadt, das Fehlen eines Turnsaales sowie kein Gemüseangebot in der Schule in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung von Übergewicht. Dicke Kinder haben ein hohes Risiko, übergewichtige Erwachsene zu werden, und dadurch sowohl gesundheitliche Probleme, also auch psychische Probleme zu entwickeln, wenn sie etwa wegen ihres Übergewichts verspottet werden. Präventionsmaßnahmen sollten nach Ansicht der Autoren der Studie früh beginnen, wobei sie einen Aktionsplan gegen Adipositas fordern. In Finnland konnte man die Rate an übergewichtigen Kindern von 17 auf zehn Prozent dadurch reduzieren, dass die Schüler in den Schulstunden nicht mehr die meiste Zeit sitzen, sondern viel stehen müssen. Die Prävalenz für Übergewicht und Adipositas ist bei Erwachsenen allerdings noch höher als bei den Kindern, denn 41 Prozent der österreichischen Erwachsenen sind übergewichtig, woeei Männer häufiger betroffen sind als Frauen, wobei noch hinzukommt, dass die Rate der Übergewichtigen mit dem Alter zunimmt. Ursachen sind unter anderem der hohe Konsum von Fleisch und Süßigkeiten, wobei vor allem Männer zu viel Fleisch essen.

Die somatischen Folgen der Adipositas gleichen bei Kindern mit zunehmender Dauer denjenigen der Erwachsenen. Neben den körperlichen Risikofaktoren sind adipöse Kinder von psychosozialen Auswirkungen der Adipositas betroffen, denn übergewichtige Kinder werden früh mit negativen Einstellungen gegenüber ihrem Äusseren konfrontiert. Bereits Sechsjährige beurteilen die Erscheinung eines übergewichtigen Kindes als faul, schmutzig, dumm und unattraktiv. Die Stigmatisierung adipöser Kinder hat in den letzten Jahrzehnten parallel zur Entwicklung eines überschlanken, gesellschaftlichen Schönheitsideals massiv zugenommen. Diese negative Etikettierung kann sich hemmend auf die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts sowie auf den Aufbau von sozialen Kontakten auswirken.

Das Selbstwertgefühl übergewichtiger Kinder unterscheidet sich vor allem im Bereich der körperlichen Erscheinung, Attraktivität und Körperbild vom Selbstwert der normalgewichtigen. Die Diskriminierung übergewichtiger Jugendlicher wirkt sich auch auf ihre Ausbildung und ihr späteres Berufsleben aus.

Die vielfältigen Stigmatisierungen können schon bei jüngeren Kindern dazu führen, ausschließlich auf negative Aspekte der eigenen Figur zu fokussieren und in der Folge Diätverhalten zu entwickeln. Die "Angst vor Gewichtszunahme" ist in unserer Gesellschaft zu einer eigenen "Krankheit" und psychischen Belastung für weite Teile der Bevölkerung geworden. Dies trifft neuerdings  insbesondere auch für Kinder zu: Übergewichtige Kinder entwickeln signifikant häufiger ein restriktives Essverhalten, Unzufriedenheit mit ihrem Körper und bekunden Angst vor einer Gewichtszunahme. Ebenso entwickeln übergewichtige Kinder häufiger als normalgewichtige ein negativ gefärbtes Körperbild. Diese Faktoren stellen Risikofaktoren zur Entwicklung von Essstörungen dar, denn gerade ein restriktives, rigides Essverhalten führt häufig zu Kontrollverlust im Sinne von Heißhungeranfällen, welche wiederum nebst Gewichtszunahmen auch schwerwiegende psychische Folgen haben. Zusätzlich wirkt sich das wiederholte Erleben, bei der Lösung des Problems Adipositas unwirksam zu sein, langfristig negativ auf die Einschätzung der Selbstwirksamkeit aus, die negative Einschätzung der eigenen Problemlösefähigkeit kann sich generalisieren und anhaltende Stimmungsbeeinträchtigungen begünstigen.

Sowohl bei Erwachsenen wie auch bei Kindern, die von Übergewicht betroffen sind, gibt es immer deutlichere Hinweise darauf, dass affektive Störungen und Angststörungen bei übergewichtigen erwachsenen jungen Frauen signifikant häufiger auftreten als bei normalgewichtigen Kontrollpersonen. Bei adipösen Kindern wurden nebst affektiven Störungen vor allem externalisierende Verhaltensstörungen wie ADHD gehäuft gefunden. Zudem weisen auch übergewichtige Kinder vermehrt ein gestörtes Essverhalten im Sinne einer Binge Eating Disorder (BED) auf.

Wie Rose Shaw 2010 berichtet, hat sich nach Informationen der Centers for Disease and Prevention in den USA die Häufigkeit von Adipositas bei Kindern in den letzten dreißig Jahren mehr als verdreifacht. So nahm die Häufigkeit von Adipositas bei Jugendlichen im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren von fünf auf achtzehn Prozent im Jahre 2008 zu, wobei im Jahre 2007 zwei Millionen Jugendliche im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren mindestens eine Episode von klinischen Depressionen hatten. Essstörungen sind vermutlich nicht nur ein häufiges Symptom bei Patienten mit Depressionen, sondern Essstörungen können auch der Entwicklung von Depressionen vorausgehen.

Ursachen kindlicher Adipositas

Die positive Energiebilanz ist mit zu viel Energiezufuhr bzw. zu große Mengen und zu fetthaltige Speisen, und zu wenig Energieverbrauch bzw. zu wenig Bewegung zu erklären. Allgemein ist mit der Fastfoodindustrie zeitgleich zum Anstieg der Adipositasprävalenz nicht nur ein erhöhter Verzehr von Fett und raffinierten Lebensmittel zu verzeichnen, sondern auch eine Tendenz zu größeren Portionen und häufigeren Mahlzeiten.

Neben Ernährungsfaktoren ist auch das Essverhalten mit Übergewicht assoziiert: Übergewichtige Kinder essen wesentlich schneller als normalgewichtige Kinder und die Essgeschwindigkeit nimmt im Verlauf der Mahlzeit nicht ab.

Auch der mütterliche Umgang mit Essen, d.h. die Frequenz des Nahrungsmittelangebots bzw. die Häufigkeit, mit der verbale Essensaufforderungen gegeben werden, entscheidenden Einfluss auf das kindliche Essverhalten hat. Wie, wo und in welchem Tempo zuhause gegessen wird, ist für die Entwicklung des Essstils von Bedeutung. Vor allem die Tradierung des Essstils von Müttern zu Töchtern spielt eine wichtige Rolle: Mütter mit enthemmtem Essverhalten haben übergewichtigere Töchter.

Eine neuere Studie (Urlacher et al., 2019) zeigte überraschenderweise, dass körperlich aktive Kinder genauso viel Energie wie bewegungsarme Kinder verbrauchen, denn für das Übergewicht ist nur das Essverhalten entscheidend. Kinder besitzen offenbar ein gewisses Energiebudget, das sie täglich verbrauchen und das für alle gleich ist, denn essen Kinder mehr als sie verbrauchen können, nehmen sie zu. In der Studie wurden Kinder aus den USA und Großbritannien mit indigenen Kindern aus dem Amazonas verglichen, und obwohl die Kinder aus den Industrieländern mehr sitzen und sich eher in einer sauberen Umgebung befinden, verbrauchen sie am Tag gleich viel Kalorien wie Kinder, die im Regenwald aufwachsen, sich viel bewegen und deren Immunsystem sich ständig gegen Viren und Bakterien verteidigen muss. Der Energieverbrauch war in dieser Untersuchung dabei unabhängig von ihrer Körpermasse. Pro Tag bewegten sich die untersuchten Kinder des Shuar-Stammes sogar um 25 Prozent mehr als die zum Teil leicht übergewichtigen britischen und amerikanischen Kinder, sie verbrauchen dabei aber weniger Energie. Man nimmt daher an, dass Kinder aus den USA und Großbritannien mehr Bewegungsenergie verbrauchen, weil sie mehr Gewicht mit sich herumtragen. Auch könnte es sein, dass sich die Shuar-Kinder effektiver bewegen, denn im Ruhezustand verbrauchten die indigenen Kinder 20 Prozent mehr Energie, was am verstärkten Selbstverteidigungsmodus ihres Immunsystems liegen könnte. Daher widerspricht die Studie gängigen Annahmen, wonach sich der Energieverbrauch am Tag einfach addiert. Untersuchungen an Menschen, die begonnen haben, regelmäßig Sport zu machen belegen auch, dass man am Anfang viel Energie verbraucht, doch mit der Zeit passt sich der Körper an und verbrennt weniger. Daher dürfte es vor allem an der Energiezufuhr liegen, ob ein Kind übergewichtig oder sogar adipös wird, d. h., die Menge an Kalorien, die man zu sich nimmt, scheint den Energiehaushalt viel direkter zu beeinflussen als bisher angenommen. Unabhängig vom positiven Einfluss auf Herz und Lunge wirkt sich Bewegung aber auch indirekt auf das Körpergewicht aus, denn wer sich mehr bewegt, hat weniger Appetit, und je mehr Muskeln jemand besitzt, desto mehr Energie verbraucht er auch im Ruhezustand.

Störungen in den neuronalen Netzwerken, die Sättigung und Appetit kontrollieren, können nach einer Untersuchung von Kantonen et al. (2021) bereits beobachtet werden, noch bevor eine Person Fettleibigkeit entwickelt, und diese Gehirnveränderungen stehen mit familiären Risikofaktoren für Fettleibigkeit in Verbindung. Bei Menschen mit familiärer Vorbelastung ist der Hirnstoffwechsel dahingehend verändert, dass Sättigungsgefühl und Appetit schlechter reguliert werden.

Die Entwicklung von Übergewicht kann im Übrigen auch durch psychologische Faktoren beeinflusst sein. Ein niedriger Selbstwert, negatives Körperkonzept, Angst und affektive Störungen sind mit Übergewicht assoziiert, jedoch ist der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nicht eindeutig. In prospektiven Studien konnten sowohl depressive Stimmung als auch Störung des Sozialverhaltens als Prädiktoren isoliert werden. Sowohl elterliche Vernachlässigung als auch kognitive Unterstimulation konnten mit der Entwicklung von Adipositas in Verbindung gebracht werden.

Werbung beeinflusst das Essverhalten von Kindern

Zwei Drittel aller Kinder im Volksschulalter spielen mindestens ein Mal pro Woche ein Online-Spiel, das Aufmerksamkeit für eine Marke schaffen will, wobei sich nur ein Bruchteil der Kinder dessen bewusst ist, dass es sich bei den Spielen um Werbung handelt. Folkvord et al. (2016) haben nun die Wirkung von Werbespielen auf das Essverhalten von Kindern untersucht, wobei sich zeigte, dass wenn das Spiel Werbung für Lebensmittel enthielt, die Kinder in einer fünfminütigen Spielpause 55 Prozent mehr an angebotenen Süßigkeiten aßen als Kinder, die im Spiel Werbung für Spielzeug gesehen hatten. Die erste Gruppe griff zudem seltener zu gleichzeitig angebotenem Obst, wobei es keinen Unterschied machte, ob im Spiel Süßigkeiten oder Obst zu sehen gewesen waren, denn in beiden Fällen griffen die Kinder vermehrt zu Süßigkeiten. Offenbar reicht allein das Zeigen von Essbarem in einem Spiel, um Kinder zu übermäßigen und ungesundem Essverhalten zu bringen. Man nimmt daher an, dass Lebensmittelwerbung einen erheblichen Beitrag zu Fettleibigkeit leistet, wobei nicht zuletzt dank Social Media Lebensmittel- und Getränkehersteller Kinder auf verschiedensten Wegen mit Werbung zu erreichen versuchen.


 

Siehe auch

Quelle: Diese Arbeitsblätter entstammen teilweie der Studie von Ursula Gruber "Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention".



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