SIEB.10/Prosa

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Hochzeitsreise in 35 Ansichtskarten

Liebste Eltern!
Gut in Verona angekommen. Kein Stau an der Grenze. Meine Marianne ist die Hälfte der Strecke gefahren. Nochmals Dank für die Hochzeitsgeschenke. Haben uns sehr darüber gefreut. Trotz der vielen Touristen gleich ein Hotel gefunden (nur fünf Minuten von der Arena). Heute Abend geht es in die Traviata.
Viele liebe Grüße und nochmals Dank.
M. & W., Eure Kinder.

Liebe Eltern!
Die Traviata war ein Erlebnis. Es ist 2 Uhr und wir sitzen auf der Piazza Bra in einem Ristorante - es ist noch immer warm. Morgen - nein heute natürlich - gehen wir in Nabucco. M. hat eine Flasche Spumante bestellt, die der Kellner gerade bringt. Trinken auf unser und auf Euer Wohl. Salute!
Viele liebe Grüße M. & W..

Liebe Eltern!
Marianne hat sich ein neues Kleid gekauft. Es hat nicht einmal 100000 L. gekostet (die Hälfte wie bei uns). Heute will sie es bei Nabucco anziehen. Freuen uns schon darauf. Bleiben noch einen Tag, dann geht es weiter in den Süden.
Viele liebe Grüße senden Euch
M. & W., Eure Kinder.

Liebe Eltern!
Es ist wieder zwei Uhr morgens. Mond über der Piazza Bra. Nabucco war ein Traum, sagt M. Die Kerzen bei der Ouverture, dann das "bis, bis" bei der "Teuren Heimat". Nachher wieder auf der Piazza Bra. Nicht so lange gesessen, morgen wollen wir nach Bologna weiter. Gehen jetzt ins Bett. Marianne bügelt einen Wachsfleck aus dem neuen Kleid.
Viele Grüße senden Euch Euer glückliches Paar M. & W.

Liebe, liebe Eltern!
Wir sitzen in einer Autobahnraststätte am Po-Ufer. Es ist heiß und der Fluß stinkt! Marianne schreibt eine Karte an Ihre Eltern. Sie findet es ein bißchen kindisch, daß ich so oft schreibe. Ihr sollt ja wissen, wo wir gerade sind und was wir machen. Werden noch einen Cappuccino trinken - dann geht es weiter.
Herzlichst Eure glücklichen M. & W.

Liebe Eltern!
Sind in Bologna. Marianne besteigt gerade den Torre Asinelli. Sitze in einer Bar und warte auf sie. Mir wird bei Turmbesteigungen ja immer schwindlig. Habe einen Eiskaffee bestellt. Das ist das Beste bei der Hitze. Marianne winkt mir von oben zu. Noch ein Eiskaffee. Sie kommt gerade aus dem Turm. Es war herrlich, sagt sie. Wenn sie nur glücklich ist! Ich liebe sie so sehr!
Viele Grüße senden Euch M. & W.

Liebste Eltern!
Marianne macht sich im Bad zum Abendessen fertig. Hat noch ein Kleid gekauft - Blumenmuster und tiefer Auschnitt. Will es gleich ausführen. Ich muß ihr den Reißverschluß zumachen. Bin ein bißchen müde - heute allein gefahren. Die Hitze macht mir zu schaffen.
Viele liebe Grüße von M. & W., Eurem glücklichen Paar.

Liebe Eltern!
Heute hatten wir unseren erste kleinen "Ehekrach" gehabt. M. möchte, daß wir ein paar Tage ans Meer fahren, obwohl wir nach Rom wollten. Fahren über Ravenna nach Rimini. Ich möchte Ihr unbedingt die byzantinischen Mosaiken zeigen. Die habe ich ja schon als Kind mit Euch besichtigt. Die werden ihr bestimmt gefallen.
Viele Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
M. macht sich zwar nicht viel aus Kunst, doch die Mosaiken von San Vitale haben sie doch beeindruckt. Sie hat sich gleich einen neuen blauen Badeanzug mit goldenen Sternen gekauft. Es ist ja ihr Geld. Fahren morgen nach Rimini weiter. Hoffentlich bekommen wir ein gutes Quartier (Feragosto). Es ist noch immer sehr heiß.
Liebe Grüße W. & M.

Liebe Eltern!
Haben ein kleines Zimmer bekommen (nur Fließwasser). Sind gleich an den Strand, obwohl ich mir daraus nicht viel mache. Marianne steht der neue Badeanzug gut. Die Italiener haben sie am Strand bewundert, obwohl es fast nur deutsche Touristen gibt. Habe mir einen Sonnenbrand geholt. Ich vertrage halt keine Sonne.
Viele Grüße M. &W.

Liebe Eltern!
M. möchte noch zwei Tage in Rimini bleiben. Rom läuft uns nicht davon, sagt sie. Haben ein bekanntes Ehepaar aus Wien (die Beers - er war mein Studienkollege) getroffen - bin mit ihnen noch einmal nach Ravenna (Theoderichs Grabmal). M. ist am Strand geblieben. Sie macht sich nichts aus Kultur. Aber das habe ich ja gewußt.
Euer W.

Liebe Eltern!
Sitzen in einem Restaurant in Rimini. M. hat am Strand einen Italiener (aus Rom, der hier auch Urlaub macht) kennengelernt (sie kann ja Italienisch); der hat das Restaurant empfohlen. Marcello (oder Marco?) hat uns auf eine Bootsfahrt eingeladen. Er hat ein Boot im Hafen liegen. Ich will nach Rom weiter. Ich kann ihr keine Bitte abschlagen.
Herzliche Grüße W. & M.

Liebe Eltern!
Mir ging es in der Früh nicht besonders. Habe gestern zuviel getrunken. M. wollte unbedingt die Bootsfahrt machen. Ich bin im Bett geblieben. Ob ich auch nichts dagegen habe, hat Marianne gefragt. So eine Gelegenheit muß man nützen. Ich werde ein Pulver nehmen.
Euer W.

Liebe Eltern!
Es geht mir schon wieder besser. M. sagt, daß die Bootsfahrt herrlich war. Marcello hat uns zum Abendessen eingeladen. Werde heute sicher nichts trinken. Wir müssen gehen, darum jetzt Schluß!
Liebe Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
Haben uns schon wieder gestritten. Zuviel getrunken. Ich sei eifersüchtig. Marcello hat uns noch in eine Bar geschleppt. Es ist spät geworden. Aber heute fahren wir nach Rom weiter. Aus dem geplanten Abstecher nach San Marino wird nichts. Leider!
Herzliche Grüße auch an Tante Mina! Euer W.

Liebe Eltern!
Sind in Perugia. Unfreiwillig! Ich muß den Keilriemen austauschen lassen. Marianne sagt, daß wir ein neues Auto brauchen. Marianne geht es nicht gut. Sie hat Kopfweh (sagt sie!). Lassen uns das Abendessen aufs Zimmer bringen. Das nächste Mal schreibe ich Euch aus der Ewigen Stadt.
Liebe Grüße W. &M

Liebe Eltern!
Wagen wieder okay! Machen in einer Raststation eine kurze Pause. Ich freue mich auf Rom. M. hat noch immer Kopfweh - ich muß fahren. M. sagt, daß sie sich auf Rom freut. Bisher war sie nicht so begeistert davon.
Viele Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
Bin die ganze Strecke allein gefahren. Gleich ein Hotel gefunden. M. geht es etwas besser. Wir haben Glück: morgen ist eine Papstaudienz am Petersplatz. Wir haben einen Rosenkranz und ein Amulett bekommen. M. meint, das sei alles Ramsch.
Viele Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
Haben überraschenderweise Marcello getroffen. Er ist ja aus Rom. In Rimini war Schlechtwetter. Da fahren alle Römer heim. M. geht es wieder besser, sagt sie. Gehen heute abends mit dem Italiener essen. M. hat sich noch ein Kleid gekauft. Es ist jetzt Ausverkauf. Marcellos Tante hat hier eine Boutique (30% billiger).
Viele Grüße W. & M.

Liebe Eltern!
Habe wieder zuviel getrunken. M. ist mit Marcello zur Papstaudienz. Liege im Hotel und nehme ein Aspirin nach dem anderen. Noch drei Tage, dann geht es wieder heim. Möchte den Lateranpalast besichtigen. M. macht sich nichts aus Kunst. Heute werde ich bestimmt nichts Alkoholisches trinken. M. wird bald zurückkommen und ich muß aufstehen.
Herzliche Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
Heute war ich in der Engelsburg und auf dem Forum Romanum. M. machte einen Einkaufsbummel. Die "alten Steine" interessieren sie nicht. Man muß ja nicht alles gemeinsam machen. In zwei Tagen geht es nach Hause. Marcellos Tante (Boutique) hat uns zum Abendessen eingeladen. Ich habe keine rechte Lust...
Herzliche Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
M. ist allein gegangen. M. sagt, sie muß jede Gelegenheit nutzen, Italienisch zu sprechen. Mir geht das Gequatsche schon auf die Nerven. Ich habe mir das Abendessen aufs Zimmer bringen lassen. M. hat gesagt, ich soll nicht auf sie warten. Vielleicht war Rom doch keine so gute Idee für eine Hochzeitsreise.
Viele Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
Hatten gestern Nacht - nein, heute früh - einen Streit. Marcello hat sie nach Hause gebracht. Ich werde noch heute nach Hause fahren. M. meint, ich sei grundlos eifersüchtig. Ich hätte ja mitkommen können.
Grüße Euer W.

Liebe Eltern!
Haben uns wieder versöhnt. Wollen heute gemeinsam einen Ausflug unternehmen. Vielleicht zur Via Appia.
Liebe Grüße Eure W.&M.

Liebe Eltern!
Ich brauche Eure Hilfe! Habe Euch telefonisch nicht erreicht. Sitze auf der Präfektur von Trento. Der Polizist fragt mich, wann ich M. zum letzten Mal gesehen habe. Sie ist angeblich verschwunden und hat die Hotelrechnung nicht bezahlt.
Euer W.

Liebe Eltern!
Muß nach Rom zurück, bis die Sache geklärt ist. Bitte holt den Wagen aus Trento ab. Er steht auf dem Hotelparkplatz (Bologna) in der Via Belenzani 76. Der Schlüssel liegt auf der Präfektur.
Euer W.

Liebe Eltern!
Wieder in Rom. M. ist noch immer nicht aufgetaucht. Ich habe auf dem Gang des Polizeipräsidiums Marcello gesehen. Er hat mich so komisch angeschaut. Immer dieselbe Fragen. Ich weiß nichts. Hoffentlich bekommt Ihr diese Nachricht.
Euer W.

Liebe Eltern!
Ich habe nichts getan. Sie haben mich in der letzten Nacht pausenlos verhört. Ich sage gar nichts mehr. Ich brauche Geld für einen Anwalt. Bitte helft mir! Ich habe nichts getan.
Euer W.

Liebe Eltern!
Der Staatsanwalt war bei mir. Sie haben M. gefunden (in einem Park in der Nähe des Hotels). Es ist schrecklich. Sie ist erwürgt worden. Sie verdächtigen mich!!! Es ist absurd. Brauche dringend Geld. Habt ihr schon den Wagen abgeholt? Ich sage gar nichts mehr.
Euer W.

Liebe Eltern!
Bitte kommt nach Rom. Sie haben mir Fotos von M. gezeigt. Sie glauben tatsächlich, daß ich etwas damit zu tun habe. Sie haben mich Marcello gegenübergestellt und der beschuldigt mich, sie umgebracht zu haben.
Euer W.

Liebe Eltern!
Ich weiß nicht, ob ihr meine Postkarten erhalten habt. Die Post in Italien ist so unzuverlässig. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können. Es ist alles so unwirklich. Bitte helft mir. Ich bin unschuldig!
Euer Sohn W.

Liebe Eltern!
Der eine Kommissar ist recht freundlich. Er scheint mir zu glauben. Er hat auch erlaubt, daß ich Euch weiter schreibe. In Rom sind in letzter Zeit einige Touristinnen überfallen worden. Hoffentlich komme ich bald nach Hause.
Euer W.

Liebe Eltern!
M.s Vater war hier. Er glaubt mir nicht. Er hat mich angeschrien. Auch der nette Kommissar war heute unfreundlich. Die Rezeptionistin im Hotel in Rom hatte unseren Streit mitbekommen. Bitte, kommt doch!
Euer unglücklicher W.

Liebste Eltern!
Immer die Verhöre. Ich habe nichts getan. Ihr habt mich ja gewarnt, daß M. nicht zu mir paßt. Ich muß wieder zum Verhör. Sie haben angeblich Spuren gefunden. Es ist absurd!
Euer W.

Liebe Eltern!
Ich halte es nicht mehr aus. Es hat alles keinen Sinn mehr. Lebt wohl! Ich liebe Euch!
Euer unglücklicher Sohn.

SIEB.10 @ 4711 e-zine für literatur

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Veröffentlicht in:
erostepost. Sondernummer zum Literaturpreis 1993. Salzburg.