*EINLEITUNG Das neue Paradigma der Psychologie *

 

aus:
Stangl, Werner (1989).
Das neue Paradigma der Psychologie.
Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
ISBN: 3-528-06342-4

 

In dieser Arbeit wird ein erster Schritt unternommen, die traditionelle wissenschaftliche Konzeption der Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus zu betrachten und die Grundlegung einer neuen radikal konstruktivistischen Psychologie zu versuchen. Dabei stellen sich mehrere Aufgaben:

  • erstens muß ein geeigneter erkenntnistheoretischer Standpunkt für die Analyse, den Vergleich bzw. dessen Diskurs gefunden werden,
  • zweitens muß in groben Umrissen eine Fragestellung für den Vergleich von traditionellem und neuem Paradigma entworfen werden,
  • drittens ist es notwendig, das vorherrschende wissenschaftliche Paradigma der Psychologie offenzulegen, schließlich ist
  • viertens das neue Paradigma des Radikalen Konstruktivismus, insofern es für eine wissenschaftliche Psychologie geeignet ist, darzustellen, und nicht
  • zuletzt muß auch der Nachweis angetreten werden, daß eine radikal konstruktivistische Psychologie überhaupt möglich ist.

Diese fünf Problemkreise entsprechen im großen und ganzen dem Aufbau dieser Arbeit, wobei aufgrund der engen Verflechtung dieser Aufgaben zahlreiche Wechselbeziehungen und Querverbindungen bestehen, die eine bloß - für manche vielleicht wünschenswerte - lineare Anordnung nicht immer zulassen. Es ist für den Diskurs des Radikalen Konstruktivismus geradezu kennzeichnend, daß in ihm ein Ende immer zugleich ein Anfang ist bzw. vice versa, sodaß er sich grundsätzlich als niemals abschließbarer zirkulärer Prozeß darstellt, dessen erster Durchlauf in dieser Arbeit geleistet werden soll.

Die Wissenschaft bzw. die wissenschaftliche Psychologie wird in dieser Arbeit von einem zunächst ganz allgemeinen erkenntnistheoretischen Standpunkt aus untersucht, d.h., es wird davon ausgegangen, daß wissenschaftliches Handeln wie menschliches Handeln überhaupt immer darauf gerichtet ist, einen Zugang zur Welt und damit auch zu sich selber zu finden. Als Ziel allen Handelns wird dabei ein generelles Anpassungs- bzw. Überlebenskriterium postuliert, welches den Menschen mit allem tierischen, pflanzlichen und teilweise auch präbiotischen "Leben" auf dieser Welt verbindet. Der Aspekt des Wissens im Wort "Wissen"schaft wird daher in ganz allgemeinem Sinne so definiert, daß man darunter all jene Phänomene und Prozesse subsumieren kann, die letztlich das ausmachen, was man üblicherweise als Er"leben" der Welt, Über"leben" in einer Welt bzw. "Leben" in unserer Welt bezeichnet. Ein solch allgemeiner Zugang hebt daher die von manchen beklagte, nichtsdestoweniger von ihren Vertretern vorangetriebene, Isolation der Wissenschaften von den übrigen Lebenszusammenhängen auf. Diese Depotenzierung ist auch notwendig, um die Wissenschaft bzw. die Wissenschaftlichkeit selber einer Analyse unterwerfen zu können. Ein wesentliches Merkmal der Analyse wird daher ein pyrrhonistischer Standpunkt sein, der alle Grade von Skepsis über die Ironie bis zum Kynismus annehmen kann.

Am Beginn der Arbeit steht zunächst eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem schillernden und teilweise auch umstrittenen KUHNschen Paradigmenbegriff, um einen Standpunkt für die angestrebte Zielsetzung der Arbeit zu gewinnen. Es wird versucht nachzuweisen, daß gerade dieser Begriff aufgrund seiner Unschärfe geeignet erscheint, die Grundlagenproblematik der Psychologie offenzulegen, da darin bis zu einem gewissen Ausmaß die prinzipielle Irrationalität jeglichen wissenschaftlichen Unterfangens widergespiegelt wird. Es wird sich im Verlaufe dieser Arbeit auch immer wieder zeigen, daß das Betreiben einer psychologischen Wissenschaft durchaus auch solche Züge aufweist, die sie bei ihrem Untersuchungsgegenstand - dem Menschen - als nicht-rational etikettiert. Dabei wird auf einen Irrationalitätsbegriff abgezielt, der sich nicht mit dem alltagssprachlichen Verständnis deckt, vielmehr wird im Phänomen der Irrationalität ein allgemeines stammesgeschichtliches Erbteil des Menschen zusammengefaßt, das komplementär zur Rationalität steht und mit dieser zusammen das Insgesamt menschlicher Weltkonstruktion umfaßt.

Der Paradigmenbegriff wurde auch deshalb gewählt, da er wie kein anderer darauf verweist, daß Wissenschaften bzw. die sie betreibenden Wissenschaftler einer psychologischen Analyse zugänglich und bedürftig sind. In dieser Arbeit wird nämlich auch immer wieder aufzuzeigen sein, daß für das Betreiben einer Wissenschaft grundsätzlich psychologische Phänomene zur Diskussion stehen, die letztlich darüber entscheiden, welchen Anspruch eine Wissenschaft in Bezug auf Weltbeschreibung bzw. Welterklärung erheben darf. Das Ziel und Anliegen dieser Arbeit kann somit als allgemeine psychologisch-paradigmatische Analyse der wissenschaftlichen Psychologie definiert werden. Mit der paradigmatischen Zielbestimmung ist teilweise schon der Weg für die angestrebte Untersuchung vorgezeichnet und ein erster Schritt zu einer konkreten Fragestellung hin unternommen, ganz im Sinne der Auffassung, daß eine Frage nur dann beantwortbar ist, wenn wir das Ziel und somit schon einen Teil der Lösung kennen.

Im nächsten Abschnitt wird eine weitere Annäherung an die Fragestellung dieser Arbeit durchgeführt, wobei es aufgrund des universellen Anspruches eines Paradigmenvergleiches nicht möglich ist, diese eindeutig zu definieren bzw. schon am Beginn unserer Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Psychologie klar abzugrenzen. Da eine paradigmatische Analyse immer auf der denkbar höchsten Ebene der Argumentation anzusiedeln ist, gibt es kein geeignetes sprachliches oder auch logisches Instrumentarium, das eine genaue Abgrenzung und Formulierung einer Fragestellung zulassen würde. Es ist zu zeigen, daß die dafür wünschenswerte - üblicherweise als metatheoretische Perspektive zu kennzeichnende Position - aufgrund unserer Definition eines Paradigmas nicht konsequent durchgehalten werden kann, denn jede Position setzt schon ein Paradigma voraus, sodaß dieses selber konsequenterweise nicht mehr metatheoretisch hinterfragt werden kann. Das ist aber gerade das Ziel dieser Arbeit.

Es wird daher unter Ausnützung des Ziels dieser Arbeit, einen paradigmatischen Vergleich durchzuführen, eine Zwischenposition - die man vielleicht auch als Gratwanderung bezeichnen kann - eingenommen, wobei als Referenzwert immer die jeweils andere Position dient. Das Vorgehen entspricht nicht - wie man vielleicht vermuten könnte - einem dialektischen Prozeß, denn die antithetische Gegenüberstellung kann nicht zu einer Synthese führen, sondern verlangt stets eine explizite Entscheidung für eine der Alternativen. Es ist ein Kennzeichen des Radikalen Konstruktivismus, daß er immer wieder solche eindeutigen Entscheidungen verlangt. Als einziges Hilfsmittel bzw. als wesentlicher Orientierungspunkt kann allerdings eine humane bzw. humanistische Orientierung dienen, die meines Erachtens einer Wissenschaft wie der Psychologie gut zu Gesicht steht. Allerdings birgt diese pragmatische Position auch zahlreiche "Gefahren", wovon die größte vielleicht jene ist, daß auch die wissenschaftliche Psychologie als solche zur Disposition steht bzw. stehen muß, d.h., daß das Ende der Analyse unter Umständen auch zu einer Aufgabe dessen zwingen könnte, was man allgemein als wissenschaftlich-psychologischen Zugang zur Welt bezeichnet. Daß diese Gefahr nicht allzu groß ist, drückt sich in der Wahl des Titels dieser Arbeit aus, die einer Hoffnung des Autors Ausdruck verleiht.

Für die Psychologie als Wissenschaft vom Menschen kommt allerdings erschwerend hinzu, daß Wissenschaft ja ebenfalls von Menschen betrieben wird, d.h., daß Forscher und Erforschter, Wissenschaftler und Untersuchungsgegenstand im Sinne unserer Analyse prinzipiell austauschbar sind. Ein allgemeines und umfassendes Paradigma für die Psychologie als Wissenschaft muß daher als Grundlage sowohl für den Forschungsprozeß als auch für die Analyse jeglichen menschlichen Verhaltens und Handelns - also das, was üblicherweise gerade als Gegenstand der Psychologie bezeichnet wird - geeignet sein. Aufgrund dieser für die Psychologie typischen gegenseitigen Durchdringung von wissenschaftlichem und alltäglichem Handeln wird daher auch eine psychologisches Lösung dieses Dilemmas versucht, indem unter Vorwegnahme einiger erst in der Arbeit aufzuweisenden Positionen das traditionelle und das noch zu entwickelnde Paradigma programmatisch einander gegenübergestellt werden. Diese werden in bewußt bewertender Weise als "Paradigma des Machbaren" bzw. als "Paradigma des Machenswerten" bezeichnet, wobei in dieser Bewertung die subjektive Komponente des Autors sichtbar gemacht werden soll. Damit wird einer Forderung einer radikal konstruktivistischen Psychologie Rechnung getragen, die an den Anfang jeglichen Handelns eine Entscheidung für eine Richtung stellt. Diese wird hiermit zugleich als wesentliche Zielvorgabe für diese Arbeit offengelegt.

Diese Subjektivität mag manchem für die Analyse einer Wissenschaft, die im herrschenden Paradigma auf Objektivität und auf objektive Sachverhalte eingeschworen ist, zumindest ungewöhnlich, ja verdächtig erscheinen, doch wird in dieser Arbeit aufgrund des Ziels, eine radikal konstruktivistische Psychologie zu begründen, der traditionelle Objektivitätsanspruch von Wissenschaften ohnehin infragegestellt *. Man könnte die Fragestellung dieser Arbeit auch damit umreißen, daß hier die Psychologie als Wissenschaft aus einer grundsätzlich pyrrhonistischen Position betrachtet wird. Damit ist offengelegt, daß sich der Autor weitgehend dem Radikalen Konstruktivismus verpflichtet fühlt, welcher seine Motivation aus einer grundlegenden epistemologischen Skepsis gegenüber allen menschlichen Hervorbringungen ableitet. Die sonst in den Wissenschaften stets geforderte Objektivität wird hier im Sinne einer Offenlegung gerade der subjektiven Position verstanden, sodaß hier etwa jener Standpunkt vertreten wird, den auch PIAGET in bezug auf die Strukturen der menschlichen Intelligenz vertreten hat: daß wir umso mehr objektives Wissen erlangen, je mehr wir die subjektiven Komponenten bloßlegen.

Im ersten Hauptteil der Arbeit wird versucht, das vorherrschende naturwissenschaftlich-empiristische Paradigma der Psychologie zu entwickeln, wobei nicht so sehr die oberflächlichen, offenkundigen und öffentlichen Phänomene und Er. scheinungsformen im Vordergrund stehen, sondern es wird den eher impliziten und latenten Prämissen und Axiomen nachgegangen, die sich unter der Oberfläche verbergen. Aus den Ausführungen dieses Abschnittes wird auch klar werden, warum keine eindeutige Festlegung auf eine Fragestellung erfolgen konnte

Dieser erste Abschnitt der Arbeit besteht aus drei Teilen, wobei zunächst zur Einführung allgemeine Betrachtungen über Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit des empirisch-naturwissenschaftlichen Ansatzes in der Psychologie anzustellen sein werden. Dabei ist insbesondere auf die die allgemeinen Ziele von Wissenschaft und die traditionellen Methoden, diese zu erreichen, einzugehen. Daran anschließend werden die beiden sich aus den Zielen ergebenden Hauptprobleme dieses Paradigmas bzw. die Lösungen des Erkenntnisproblems in den Formen der Induktion und Deduktion dargestellt und diskutiert. Es wird gezeigt, daß die unter dem traditionellen Wissenschaftlichkeitsanspruch angestrebten Lösungen des Erkenntnisproblems notwendigerweise scheitern müssen, wenn man gleichzeitig am zugrundeliegenden empiristisch-nomothetischen Paradigma festhält.

Obgleich die Analyse der Wissenschaftlichkeitsproblematik für alle Wissenschaften in mehr oder minder gleichem Maße gelten kann, wird unter der Zielsetzung dieser Arbeit natürlich vor allem auf die innerwissenschaftlichen Probleme der Psychologie abgehoben, wobei sich manche dieser Probleme aufgrund des humanen Gegenstandes dieser Wissenschaft in - wie schon oben postuliert - verdoppelter Form stellen. Daher werden als Beispiele zur Illustration der einschlägigen Probleme immer genuin psychologische Fragestellungen thematisiert, die vor allem in kleinen und größeren Exkursen behandelt werden. Ein erster solcher Exkurs betrifft die im vorherrschenden Paradigma der Psychologie vorwiegend "experimentelle Verhandlung" des psychologischen Gegenstandes, wobei vor allem zu zeigen ist, daß hier zahlreiche implizite Mechanismen wirksam werden, die dem traditionellen naturwissenschaftlich-mechanistischen Menschenbild entsprechen. Dieses Menschenbild wird in dieser Arbeit grundsätzlich infragegestellt.

Da eine psychologisch-paradigmatische Analyse der Psychologie sich auf dem Hintergrund des hier vertretenen Radikalen Konstruktivismus vorgängig als Analyse der Menschen, die diese Wissenschaft betreiben, versteht, wird dem Wissenschaftler ein eigener Abschnitt gewidmet. Darin wird aufzuzeigen versucht, daß die wissenschaftlichen Postulate des traditionellen Paradigmas geradezu komplementär den (Ver)Handlungen ihrer Interpreten und Vertreter gegenüberstehen und daher eher skeptisch zu betrachten sind. Es wird daher eine "Psychologie des Wissenschaftlers" gefordert, die uns notwendig erscheint, um den allgemeinen Wissenschaftlichkeitsanspruch überhaupt noch aufrechterhalten zu können. In diesem Sinne muß auch die vorliegende Arbeit verstanden werden, einen ersten Schritt in diese Richtung zu gehen.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit wird der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus eröffnet, wobei nach der Besprechung einiger Vorläufer die zentrale Problematik der Wissenschaften unter diesem Paradigma erörtert wird. Da der Diskurs des Radikale Konstruktivismus im Gegensatz zum naturwissenschaftlich-empiristischen Paradigma trotz zahlreicher Wurzeln im abendländischen Denken erst vor etwa zwanzig Jahren seinen Anfang genommen hat, kann eine Darstellung nur den einen oder anderen Schwerpunkt herausgreifen *. Dabei wird versucht, vor allem jene Merkmale dieses paradigmatischen Ansatzes zu durchleuchten, die in Abhebung zum naturwissenschaftlichen Weltbild und zum damit verbundenen linear-kausal-nomothetischen Denkmodell bei der wissenschaftlichen Gegenstandsanalyse beachtet werden müssen. Es wird auch nachzuweisen sein, daß gerade für die wissenschaftliche Psychologie neben erkenntnistheoretisch-logischen Gründen, die im wesentlichen schon im ersten Hauptteil der Arbeit abgehandelt wurden, auch pragmatische und spezifisch gegenstandsbezogene Ursachen für ein teleologisch-nutzenkausales Vorgehen sprechen. Das für den Radikalen Konstruktivismus geradezu zentrale Merkmal der Teleologie beruht im wesentlichen auf einer zirkulären Konzeption seines allgemeinen Beschreibungs- und Erklärungsmodells, wobei meines Erachtens gerade diese Eigenschaft des konstruktivistischen Modells ihn für den wissenschaftlich-psychologischen Gegenstand besser qualifiziert als ein lineares Modell. Der teleologische Standpunkt steht somit komplementär zum kausalen Modell des traditionellen Paradigmas und wird auch in Abhebung zu diesem diskutiert.

Ein wichtiges Merkmal der Konzeption eines konstruktivistischen Paradigmas liegt des weiteren in seiner prinzipiellen Offenheit für alle Wissenschaften. Gerade diese Offenheit ist meines Erachtens ein grundlegender Vorteil, da dieses Modell - im Gegensatz etwa zum naturwissenschaftlich-empiristischen Paradigma - nicht erst nachträglich auf dem Modell inhärente prinzipielle Grenzen des menschlichen Zugangs zur Welt stößt, sondern diese schon von vornherein eindeutig definiert bzw. gerade von diesen ausgehend konzipiert werden muß. Für diese Offenheit ist aber ein Preis zu zahlen, der unter dem Aspekt des Solipsismus behandelt werden soll. Es wird sich auch zeigen, daß eine Wissenschaft in einer radikal konstruktivistischen Perspektive schon zu Beginn auf wesentliche ethische Fragen stößt, die sie von vornherein verpflichtet, ihren Freiheitsbegriff bzw. ihr Verhältnis zur Gemeinschaft zu definieren.

Aufgrund der relativ jungen Geschichte des Radikalen Konstruktivismus besteht der Kern dieses Programms im wesentlichen aus allgemeinen erkenntnistheoretischen Rahmenbedingungen, die sich aus biologischen, physikalischen, kybernetischen aber auch teilweise aus genuin psychologischen Wurzeln herleiten und in ihm verbunden werden können. Da die Diskussion um diese Rahmenbedingungen heute bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, ergibt sich die Chance für die Psychologie, einen wesentlichen Beitrag zu einer Weiterentwicklung und Präzisierung dieses Modells beizutragen. Damit wird das traditionelle Verhältnis zwischen epistemologischen Grundlagen und innerwissenschaftlicher Methodologie, das im herrschenden empiristisch-naturwissenschaftlichen Paradigma die Psychologie im wesentlichen zu einer passiven Rezipientin verurteilt hat, umgekehrt. *

Diesem spezifischen Beitrag der Psychologie zu einem Radikalen Konstruktivismus ist im dritten Hauptteil der Arbeit nachzugehen. Zunächst werden darin die gemeinsamen Wurzeln von Radikalem Konstruktivismus und Psychologie diskutiert, die im wesentlichen aus den schon genannten kybernetisch-systemtheoretischen bzw. biologischen Quellen geschöpft haben. Trotz der definitorischen Inkommensurabilität von Paradigmen wird sich zeigen, daß zahlreiche Befunde der traditionellen empirischen Psychologie schon einen Weg vorgezeigt haben, der bei konsequenter Weiterverfolgung zu einer radikal konstruktivistischen Psychologie führen kann. Dabei sind es vor allem die Gestaltpsychologie - in ihren verschiedenen Entwicklungen und Ausprägungen - bzw. der überragende Psychologe dieses Jahrhunderts, Jean PIAGET, die in ihren epistemologischen Modellvorstellungen das vorgezeichnet haben, was als radikal konstruktivistisches Paradigma bestimmt worden ist. Allerdings wird es in manchen Fällen notwendig sein, diese Modellentwürfe aus ihrem oft "empiristisch-naturwissenschaftlichen Rahmen" herauszulösen und neu zu interpretieren. Das besteht oft bloß darin, die jeweiligen Aussagen und Hypothesen wörtlich oder einfach ernst zu nehmen.

Nach der Diskussion möglicher Wurzeln einer radikal konstruktivistischen Psychologie werden dann einige genuin psychologische Problemkreise diskutiert, wobei natürlich der Frage, wie Erkenntnis im allgemeinen - d.h. alltägliche wie wissenschaftliche - zustandekommt, das meiste Gewicht beizumessen ist. Das geschieht im Abschnitt über eine Psychologie der Kognitionen, der sich weitgehend mit dem traditionellen Forschungsfeld der Wahrnehmungspsychologie deckt. In diesem Bereich liegen vermutlich die meisten Vorarbeiten für eine radikal konstruktivistische Psychologie, wobei hier meist nur geringfügige Veränderungen der Interpretationen vorzunehmen sind. Teilweise darauf aufbauend werden weitere einschlägige Theorien der Psychologie diskutiert, die sich im wesentlichen auf den Prozeß der Speicherung (Gedächtnistheorien), der Verarbeitung (Lerntheorien) und Entwicklung (Ressourcentheorie) von Kognitionen beziehen. Daran soll auch demonstriert werden, welche integrative Kraft einem radikal konstruktivistischem Paradigma innewohnt, denn es zählt bekanntlich zu den definitorischen Merkmalen eines Paradigmas, die Wissenschaft bzw. ihre Resultate miteinander theoretisch zu verbinden und integrierend zusammenzuhalten.

Den Abschluß der Arbeit bilden mögliche Perspektiven einer radikal konstruktivistischen Psychologie, wobei zunächst eine zusammenfassende Einordnung des hier vorgestellten Ansatzes vorgenommen wird, und sodann fünf Ziele (Problemkreise) formuliert und diskutiert werden, die eine wissenschaftliche Psychologie unter dem neuen Paradigma in Angriff nehmen müßte.

Aufgrund der paradigmatischen Präferenzen des Autors wurde die Arbeit so konzipiert, daß der hier kurz skizzierte Aufbau der Arbeit einem Zirkel entspricht. In concreto: es ist dem Leser prinzipiell möglich, am Beginn jedes Hauptabschnittes in den laufenden Diskurs einzusteigen. Zahlreiche Querverweise und teilweise einander überschneidende Beweisführungen sollen dem Verständnis der Argumentation dienen. Manche Themen werden mehrmals angesprochen, wobei vor allem dem Rationalitäts-Irrationalitäts-Problem, der Objektivitäts-Subjektivitäts-Problematik und dem Sprachproblem besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Besonders letzteres gewinnt aufgrund der Tatsache, daß wissenschaftliche Konzepte - wie auch diese Arbeit - in einer ganz bestimmten Sprache abgefaßt sein müssen, einen hohen Stellenwert. In dieser Arbeit wird durch manchmal ironisierenden, aber stets provokativen Sprachgebrauch versucht, den Leser zu einem Hinterfragen der oft latenten Metaphorik zu führen. Diese Metaphorik hat - da scheint besonders die wissenschaftliche Psychologie gefährdet - einen oft fatalen Einfluß auf die Weiterentwicklung von wissenschaftlichen Theorien und Modellen, indem sie von einer bloß illustrativ gemeinten und scheinbar Prägnanz intendierenden Begriffsverwendung zu einer weitreichenden Ontologisierung gelangt. Dafür werden in dieser Arbeit zahlreiche Belege beigebracht, wobei die hier verwendete Metaphorik immer polemisch zu verstehen ist und oft geradezu im Hinblick darauf gewählt wurde. Es soll daher auch davor gewarnt werden, jeden Begriff auf die Goldwaage zu legen, vielmehr soll immer die Möglichkeit im Auge behalten werden, daß sich der Autor einfach "versprochen" oder auch der Leser "verhört" hat. Aufgrund der epistemologischen Perspektive dieser Arbeit wird darauf verzichtet, das Sprachspiel der Psychologie auf dem Hintergrund der Sprachpsychologie oder der Soziolinguistik zu behandeln, gleichwohl auch hier ein weites Feld für eine wissenschaftskritische Analyse der Psychologie zu finden ist. M.E. kann ohnehin eine solche Sprachkritik prinzipiell keine feste Grundlage für eine Erörterung der Wissenschaftlichkeitsproblematik bieten. Was hier zunächst zu leisten ist, soll allerdings exemplarisch durch das Verwenden von "……" bei manchen Begriffen angedeutet werden. Diese Form der Sprachkritik wird aber sparsam verwendet werden, wenn auch vermutlich die wesentlichsten Begriffe der Psychologie stets mit solchen Anführungszeichen versehen werden müßten, will man sie ernsthaft im wissenschaftlichen Diskurs verwenden!

In einigen Exkursen bzw. anhand zahlreicher Beispiele, die auch persönlich Erfahrungen des Autors mit der wissenschaftlichen Psychologie betreffen, werden überall in dieser Arbeit Beziehungen zur scientific community der Psychologie hergestellt, da dieser Diskurs im wesentlichen an den Wissenschaftler als Person gerichtet ist und nicht an die anonyme und daher prinzipiell "wissenslose" institutionalisierte Gemeinschaft. Ein wesentliches Element gewinnt diese Arbeit auch aus dem Umstand, daß eine radikal konstruktivistische Psychologie auch grundsätzlich spekulativ ist, d.h., sie realisiert in hohem Ausmaß die Freiheit einer Wissenschaft bzw. eines Wissenschaftlers. Diese Freiheit, stets im Bemühen um sein leidenschaftliches Anliegen, hat der Autor versucht nach bestem "Wissen" und Ge"wissen" hochzuhalten.

* An dieser Stelle soll allen jenen gedankt werden, die mir im Verlauf der letzten Jahre fruchtbare Hinweise für meine Arbeit gegeben haben.

** Der Leser sei hier auf eine Arbeit von PORTELE (1989) hingewiesen, der ebenfalls auf eine Verbindung von Psychologie und Radikalem Konstruktivismus abzielt, wobei in diesem interessanten Werk auf die ethischen Implikationen abgehoben wird, die hier nur in Andeutungen zur Sprache kommen.

*** Eine Auseinandersetzung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie wird hier nicht durchgeführt, gleichwohl diese mit dem Radikalen Konstruktivismus viele gemeinsame Wurzeln aufweist - m.E. sind beide Ansätze kommensurabel.

 

 

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Stangl, Werner (1989).
Das neue Paradigma der Psychologie.
Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
ISBN: 3-528-06342-4

 

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