[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Otto Glöckel

Otto Glöckel ist neben Alfred Adler einer der herausragenden Reformer im Zuge der Wiener Schulreform, die Wien zu einer Musterschulstadt machte, die in ganz Europa und in den USA Aufsehen erregte.

Der 1874 im niederösterreichischen Pottendorf geborene Otto Glöckel besuchte das Landeslehrerseminar in Wiener Neustadt und arbeitete bereits im Alter von neunzehn Jahren als Unterlehrer an einer Wiener Vorstadtschule. Dort erlebte er hautnah das Elend der Arbeiterkinder und schloss sich dem sozialdemokratischen Lehrerverein "Die Jungen" an, der eine grundlegende Umgestaltung des Schulwesens forderte, weshalb Glöckel 1897 von Bürgermeister Karl Lueger unter dem Vorwurf des politischen Radikalismus aus dem Schuldienst entlassen wurde. Er war 1905 Gründungsmitglied des Vereins "Freie Schule" – die nachmaligen Kinderfreunde –, für den er gemeinsam mit dem späteren Wiener Bürgermeister Karl Seitz ein reformatorisches Schulprogramm ausarbeitete. Ab 1907 war Glöckel Reichstagsabgeordneter. Eines seiner Hauptanliegen war die Trennung von Schule und Kirche, die schon im Reichsvolksschulgesetz von 1869 postuliert worden war.

Dieses hatte eine entscheidende Veränderung des josephinischen Schulwesens gebracht. Die Aufsicht über öffentliche Schulen war dem Staat übertragen, der Kirche, außer im Schulfach Religion, der Einfluss auf den Unterricht untersagt worden. Die Klassengröße war auf 80 (!) Schüler begrenzt, die Unterrichtspflicht von sechs auf acht Jahre Volksschule, mit der Möglichkeit, davon drei Jahre Bürgerschule zu absolvieren, verlängert worden. Der Widerstand der Kirche hatte 1883 zu einer Novellierung und durch weitere Verordnungen zur Aushöhlung des Gesetzes geführt, seit 1905 war die Teilnahme am Religionsunterricht und am sonntäglichen Gottesdienst für Schüler unter Strafandrohung wieder verpflichtend.

Nach den Wahlen im Februar 1919 und der Bildung einer Koalitionsregierung wurde Glöckel Unterstaatssekretär für Unterricht im Innenministerium – ein eigenes Unterrichtsministerium wurde erst 1923 geschaffen. Er richtete eine Reformabteilung ein, die er nach fachlichen Gesichtspunkten besetzte. Da der für Schulgesetze nötige Konsens zwischen Bund und Ländern nicht erzielbar war, hatte Glöckel nur einen geringen Spielraum, in dem er mit Erlässen und Schulversuchen agieren konnte. In einer seiner ersten Maßnahmen, dem sogenannten "Glöckel-Erlass" vom April 1919, wurde der Zwang zum Schulgebet und zum Religionsunterricht abgeschafft.

Am 22. März 1922 wurde Otto Glöckel zum geschäftsführenden Präsidenten des neugegründeten Wiener Stadtschulrats gewählt. Nach dem Scheitern der Koalition und den Wahlen im Oktober 1920 war die Sozialdemokratische Partei nicht mehr in der Regierung vertreten, in Wien hatte sie bis zu ihrem Verbot 1934 die absolute Mandatsmehrheit. Ab Februar 1922 hatte Wien als Bundesland eine eigene Landesschulbehörde, den Stadtschulrat, der im Palais Epstein neben dem Parlamentsgebäude untergebracht war. Dessen Präsident war – und ist bis heute – de jure der Bürgermeister der Stadt Wien. Als amtsführender Präsident setzte Glöckel, der bis 1934 auch Nationalratsabgeordneter war, die von ihm in der Bundesregierung begonnene Durchführung eines breitangelegten Versuchsschulwesens fort. Dieses schloss Schüler, Lehrer und Eltern ein. Elternvereine und Schülervertretungen sollten an der Gestaltung der Schule beteiligt sein.

Glöckel und seine Mitarbeiter hielten eine Einheitsschule, die "Allgemeine Mittelschule", eine gemeinsame Schule bis zum vierzehnten Lebensjahr, für unumgänglich. Erst dann sollte entschieden werden, ob die Schule beendet oder eine Gymnasiumsausbildung – und damit die Möglichkeit eines Universitätsstudiums – absolviert würde. Eine Entscheidung für Volks- oder Bürgerschule mit zehn Jahren versperrte den Weg zu einer höheren Ausbildung, da ein Übertritt nicht möglich war. Dem Argument der Gegner, dass das allgemeine Bildungsniveau sinken würde, trat man mit dem Hinweis auf geplante Differenzierungen entgegen.

Zwei Varianten, die "Allgemeine Mittelschule" und die "Deutsche Mittelschule", standen zur Wahl. In der Allgemeinen Mittelschule sollten die Schüler in zwei Klassenzüge eingeteilt werden, der erste Klassenzug musste Gymnasialniveau erreichen. Ein Wechsel zwischen den Klassenzügen war je nach Lernfortschritt möglich. In der Deutschen Mittelschule sollte die Muttersprache im Mittelpunkt stehen, es wurde eher Wert auf die humanistische und künstlerische Seite der Ausbildung gelegt, aber auch Rechnen und Naturgeschichte nicht vernachlässigt. In der dritten Klasse musste bei beiden Varianten eine weitere Sprache (Latein, lebende Fremdsprache) oder die Vertiefung der deutschen Sprache gewählt werden. Für besonders Begabte entstanden Bundeserziehungsanstalten, die aus den Kadettenschulen hervorgingen.

Im Schuljahr 1922/23 begannen die Schulversuche an sechs Wiener Bürgerschulen. Unterrichtet wurde sowohl von Mittelschul- als auch von Pflichtschullehrern, wobei Letztere die Neuerungen mit Begeisterung unterstützten, da sie aus ihrer bisherigen subalternen Stellung befreit wurden. Eine besondere Rolle bei der Vorbereitung der jungen Lehrer spielte das 1923 eröffnete Pädagogische Institut, wo neben anderen die Psychologen Karl und Charlotte Bühler, der Schöpfer der Individualpsychologie Alfred Adler, Anna Freud und der Jurist Hans Kelsen unterrichteten. Fachleute aus der ganzen Welt, besonders aus Deutschland und den USA, kamen nach Wien, um in den Versuchsanstalten zu hospitieren.

Das Unterrichtsamt beschränkte die Reformtätigkeit in Wien durch Erlässe und Verordnungen, Glöckel musste sich schließlich zu Kompromissen bereiterklären. 1927 wurde die Bürgerschule durch eine vierjährige Hauptschule mit zwei Klassenzügen ersetzt, eine Übertrittsmöglichkeit in die in ihren traditionellen Formen verbleibenden Mittelschulen und Gymnasien wurde gesetzlich vorgeschrieben. Es war die einzige Reform, die von dem geplanten Gesamtwerk übrigblieb. Im Gegenzug gaben die Sozialdemokraten ihr großes, aber politisch nicht durchsetzbares Ziel einer einheitlichen Pflichtschule bis 14 Jahre auf. Die Schulversuche liefen aus, 1933 wurde das Schulwesen wieder konfessionalisiert.

Im Februar 1934 wurde Glöckel verhaftet und für mehrere Monate in das Anhaltelager Wöllersdorf verbracht. Nach seiner Freilassung starb er im Juli 1935 in Wien. An ihn erinnern eine Gedenktafel an seinem Wohnhaus im 12. Bezirk und am Palais Epstein, dem ehemaligen Sitz des Stadtschulrats, der Name einer Gasse im 22. sowie der Name einer Schule im 13. Wiener Gemeindebezirk.

Anmerkung: Otto Glöckel hat für den Autor der Arbeitsblätter insofern eine besondere Bedeutung, als sein Großvater in Pottendorf einen kleinen Juwelier- und Uhrmacherladen vis à vis des Geburtshauses von Otto Glöckel besaß, und ihn immer wieder auf die große Bedeutung des Schulreformers hingewiesen hat.

Literatur


Kraus, Friederike (2013). Otto Glöckel und die Wiener Schulreform der Ersten Republik. Kulturmagazin der Wiener Fremdenführer.
Glöckel, Otto (1927). Die Entwicklung des Wiener Schulwesens seit dem Jahr 1919. Wien.
https://www.derstandard.de/story/2000134366209/otto-gloeckel-und-die-wiener-schulreform-der-ersten-republik (22-03-25)   

inhalt :::: nachricht :::: news :::: impressum :::: datenschutz :::: autor :::: copyright :::: zitieren ::::


navigation: