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Wenn du nicht weißt, was in einer Person vorgeht,
dann frage sie, sie wird es dir erzählen.
George A. Kelly

Persönliche Konstrukte - George A. Kelly

Kelly hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Abgrenzung von den damals herrschenden Denkrichtungen - der behavioristischen Psychologie und der tiefenpsychologisch-psychodynamischen - einen provozierend subjektivistischen Ansatz entwickelt. Aus psychodynamischer Sicht war er wie Banduras Ansatz zu kognitiv orientiert, zu ahistorisch im Sinne einer Entwicklungspsychologie und in Gestalt der Repertory Grid-Technik (Kelly 1955, 1986) zu objektivistisch-quantifizierend. Kelly entwickelte für seine Ideen auch eine neue Terminologie. Das von Kelly entwickelte Interviewverfahren, die "Repertory Grid-Methode", eignet sich insbesondere dafür, die subjektive Sicht von Personen flexibel, offen für die persönlichen Konstruktionen der Befragten und gleichzeitig strukturiert zu erfassen. Seit den ersten methodischen Vorarbeiten sind diese Verfahren seither in zahlreichen Varianten weiterentwickelt, abgewandelt und in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern eingesetzt worden. Die folgende knappe Darstellung stammt aus einem Aufsatz von Scheer (1992), der einen ausgezeichneten Überblick über den damaligen Forschungsstand zur Methode gibt, die in letzter Zeit neben dem ursprünglichen Anwendungsgebiet, der Individualberatung auch in der Biographieforschung, der Hochschuldidaktik, der Personalentwicklung, der Medienanalyse, der Produktentwicklung, der Stadtentwicklung und in der Pädagogik ihre Anhänger findet.

Die Theorie der persönlichen Konstrukte

Antizipation

So wie es das Ziel eines Wissenschaftlers sei, durch Vorhersagen und ihre Prüfung an der Realität diese besser zu kontrollieren, so versuche jeder Mensch, den Verlauf der Ereignisse, an denen er beteiligt ist, vorherzusagen und zu kontrollieren. Jeder Mensch habe seine Theorien, prüfe seine Hypothesen und werte seine experimentellen, besser empirischen Befunde aus. In diesem Sinne sei im Grunde jeder Mensch ein Wissenschaftler. "Man as scientist" lautet deshalb Kellys zentrale Metapher. Wir antizipieren demnach Ereignisse und Erlebnisse, wir "konstruieren" unsere Wirklichkeit und finden diese Konstruktionen an der Erfahrung validiert oder invalidiert. Das Grundpostulat Kellys lautet: Die psychischen Prozesse einer Person werden durch ihre Art, Ereignisse zu antizipieren, gelenkt. In einer Reihe von weiteren Postulaten und Definitionen, die er etwas eigenwillig - und die Rezeption erschwerend - als "corollaries" (Folgesätze) bezeichnet, hat Kelly diese Vorstellungen präzisiert. Sie beziehen sich auf die sog. Konstrukte.

Konstrukte

Was ist nun ein Konstrukt? Kelly benutzt den Begriff etwas anders, als es sonst etwa in der Gegenüberstellung von "theoretischem Konstrukt" und "beobachtbarem Merkmal" üblich ist. Ein Konstrukt ist, oberflächlich gesehen, ein verbales Etikett, aber dieses steht für eine begriffliche Unterscheidung, die ein Individuum vornehmen kann. So sind wir z. B. gewohnt, in Kontrasten (Dichotomiesatz) zu denken: Der Begriff "groß" existiert nicht ohne eine Vorstellung von "klein". 

Konstrukte dienen dazu, Ereignisse in der Vorstellung zu replizieren, also ihre Wiederholungen vorauszusehen, und durch Bestätigung oder Verwerfung unser Weltbild zu verfertigen, eben "Realität zu konstruieren" (Konstruktionssatz). Unsere Konstrukte sind in Systemen mit u. U. hierarchischer Struktur organisiert (Organisationssatz). Wir verfügen über mehrere Konstruktsysteme für verschiedene Bereiche, die auch partiell unvereinbar oder zumindest widersprüchlich sein können(Fragmentationssatz). Konstrukte sind grundsätzlich durch Erfahrung veränderbar (Erfahrungssatz). Eine Person ordnet sich selbst einer Konstruktalternative zu ("wählt" diese), wenn sie sich davon eine Erweiterung oder Präzisierung ihres Konstruktsystems erwartet; sie formt damit ihr Selbstbild, "konstruiert sich selbst" (Wahlsatz). Konstrukte sind individuell (Individualitätssatz), also persönlich, aber doch immer wenigstens begrenzt mit den Konstruktionen anderer Menschen kompatibel (Ähnlichkeitssatz) - andernfalls wäre keine Verständigung und kein Austausch im sozialen Prozeß möglich (Sozialitätssatz). Jedes Konstrukt hat einen bestimmten, begrenzten Anwendungsbereich (Bereichssatz), der enger oder weiter sein kann. Dies begrenzt auch die Veränderbarkeit von Konstrukten (Lernfähigkeit, Neuorientierung), denn Konstrukte sind unterschiedlich "permeabel", d. h. in der Lage, "neue" Elemente, z. B. Ereignisse, in ihren Geltungsbereich aufzunehmen(Modulationssatz). Es lassen sich "Kernkonstrukte" beschreiben, die das Ich betreffen und die Aufrechterhaltung der Selbstidentität ermöglichen. Veränderungen der Kernkonstrukte können zu starkem Streß führen. Kernkonstrukte sind weniger leicht veränderbar, sind anderen übergeordnet und haben deswegen einen größeren Anwendungsbereich. 

Im Zentrum von Kellys Interesse steht demnach die Erforschung der Konstrukte, mit denen das Individuum seine Umgebung analysiert, versteht, strukturiert und letztlich in ihr zurechtkommt. Es ist erkennbar, daß sich Berührungen zur modernen Kognitionspsychologie ergeben. Wenn wir an Attributionen denken, z. B. an Kausalattributionen, an kognitive Dissonanz, an Kontrollüberzeugungen, an Alltagstheorien und subjektive Theorien, dann sehen wir vielleicht, wo Konstruktpsychologie und andere Richtungen der modernen Psychologie einander berühren und voneinander profitieren könnten. Kelly hat einerseits, auch in der Auseinandersetzung mit Psychoanalyse und Behaviorismus, Themen und Konzepte der klinischen und der Persönlichkeitspsychologie im Lichte der Psychologie der persönlichen Konstrukte reformuliert und dabei stellenweise neue Perspektiven eröffne. Die Nähe seines "constructive alternativism" zur philosophischen Position des radikalen Konstruktivismus ist nicht zu übersehen, insbesondere was Kellys theoretische Vorstellungen über das Konstruieren von Realität und der Theorie selbstorganisierter Systeme im Sinne von Maturana und Varela betrifft.

Die Repertory Grid-Technik

Auf der Grundlage seiner Vorstellungen hat Kelly mehrere Vorgehensweisen entwickeln mit denen sich persönliche Konstrukte erfasssen lassen. Von besonderer Bedeutung, auch über den engeren Bereich von Kellys Konstruktpsychologie hinaus, ist die Repertory Grid-Technik.  Kelly interessierte sich v. a. für die Konstrukte, die Menschen hinsichtlich ihrer personalen Umgebung haben, also in bezug auf Personen, die in einer angebbaren Beziehung zu ihnen stehen. Das sind zum einen die primären Bezugsgruppen, nahe Verwandte, Partner, Freunde, aber auch Repräsentanten typischer Beziehungen, wie z. B. "der Lehrer, der Sie in Ihrer Jugend am meisten beeinflußt hat" oder "die Person, in deren Gegenwart Sie sich am unwohlsten fühlen" oder "der glücklichste Mensch, den Sie persönlich kennen". Diese Personen werden in der Terminologie des Verfahrens als Elemente bezeichnet. Die ursprüngliche Version kannte 24 solcher Elemente. 

Die Elemente sind demnach die Gegenstände, auf die sich die Konstrukte beziehen, sie sind also die Grundlage eines Konstruktsystems. Wählt man andere Elemente, z. B. "belastende Situationen", wird man mit einer anderen Art von Konstrukten rechnen können, die ja sozusagen die Medien des "antizipierenden" Denkens im Hinblick auf die Elemente sind. Diese grundsätzliche Wahlfreiheit bei der Definition von Elementen und auch bei der Festlegung der Prozedur zur Gewinnung von Konstrukten macht die vielseitige Verwendbarkeit des Verfahrens aus.

Durchführung

Der erste Schritt der Untersuchung des Konstruktsystems in der "klassischen" Form besteht aus der Erhebung der Elemente. Dazu stellt der Untersucher zusammen mit dem Probanden eine Liste dieser wichtigen Personen zusammen, in der Praxis vielleicht 10 oder 13 oder auch 20, je nach besonderer Eingrenzung des Untersuchungsthemas. 

Der zweite Schritt besteht aus der Gewinnung der Konstrukte. Hierzu gibt es verschiedene Methoden, die jeweils ihre Vor- und Nachteile, d. h. einen spezifischen Anwendungsbereich haben. Bei der gebräuchlichsten werden aus der Menge der Elemente nach Zufall Triaden gebildet. Diese drei Elemente werden - z. B. auf Karten geschrieben - dem Probanden vorgelegt mit der Aufgabe, sich zu überlegen, in welcher Weise zwei der drei Elemente einander ähnlich sind und sich darin von dem dritten unterscheiden.

Wenn beispielsweise die zwei ähnlichen Elemente die Mutter und Tante Emma sind, ist ihnen vielleicht gemeinsam, daß sie "gefühlsbetont" sind, in Absetzung vom besten Freund, der als "sachlich" bezeichnet wird. Das erste Konstrukt ist dann "gefühlsbetont", sein Kontrastpol "sachlich". Danach wird eine weitere Triade ausgelost, ein zweites Konstruktpaar gewonnen. Man fährt fort, bis man ungefähr so viele Konstrukte hat, wie Elemente vorlagen, also vielleicht 10 oder 13 oder 20.

Dieser Prozeß der Konstrukterhebung ist ein längerdauernder Vorgang, der nicht nur aus einer bloßen Befragung besteht. Oft müssen sich die Probanden ihre Konstrukte "erarbeiten", denn nicht immer liegen ihnen alle geläufig vor. Wie bei manchen anderen Testverfahren ist vom Untersucher eine einfühlsame, behutsame Begleitung gefordert. Er muß allzu konkretistische, oft "triviale" Konstrukte abweisen (wie z. B. "alt" - "jung"), deren Nennung allerdings manchmal als Ausdruck von Abwehrvorgängen gedeutet werden kann. Er muß gelegentlich Artikulationshilfe leisten, etwa durch Nachfragen. Es wird vielleicht deutlich, daß auch eine gewisse Vertrauensgrundlage gegeben sein muß, weil durchaus intime Dinge berührt werden können. Die Gewinnung der Konstrukte kann eine Stunde oder auch länger dauern. Der Vorgang der Konstruktgewinnung kann auch eigenes Interesse beanspruchen: die Kommentare der Probanden zu ihren Überlegungen bieten oft reichhaltiges Material, das dem in tiefschürfenden Interviews gewonnenen vergleichbar ist, manchmal durch die Art des Vorgehens ganz unerwartete Bereiche eröffnet.

Elemente und Konstrukte werden alsdann so angeordnet, daß eine zweidimensionale Matrix entsteht. Im dritten Schritt wird der Proband aufgefordert, mit Hilfe einer 6stufigen Skala für jedes Element anzugeben, inwieweit jedes Konstrukt bzw. sein Kontrastpol auf das Element zutrifft. Auch dieser Schritt beansprucht verständlicherweise einige Zeit. Das Ergebnis ist eine rechteckige, meist quadratische Matrix mit Zahlen von z. B. 1 bis 6. Damit ist die Durchführung der Untersuchung abgeschlossen. Diese Matrix ist nun der Ausgangspunkt für alle weitergehenden Auswertungen.

Auswertung

Das Schwergewicht der Auswertung liegt auf der Untersuchung der Konstruktsysteme einzelner Personen. Da keine allgemeingültigen Merkmalsvariablen erhoben werden, ist das Vorgehen als idiographisch zu kennzeichnen.  In der klinischen Arbeit mit einzelnen Klienten, besonders im Rahmen einer therapiebezogenen Diagnostik, mag es schon von Interesse sein, direkt von der Grid-Matrix auszugehen. Man kann wie bei einem Interviewprotokoll das vorliegende Material betrachten, die Beurteilungen verschiedener Personen per Inspektion vergleichen etc. Es liegt jedoch nahe, eine solche Datenstruktur multivariat auszuwerten und sie den heute in Computern vorliegenden Programmprozeduren zu unterziehen. Schon Kelly hatte eine Art nonparametrischer Faktorenanalyse vorgeschlagen. Heute werden zur Reduktion der Komplexität hauptsächlich einerseits Faktorenanalysen, andererseits Clusteranalysen verwendet. Diese Programme liefern Zusammenhangsmaße für die Beziehungen zwischen den Elementen sowie zwischen den Konstrukten und ermöglicht die Berechnung von Distanzmaßen. So lassen sich etwa Distanzen zwischen Selbst und Ideal-Selbst in Kennwerten angeben oder auch Distanzen zwischen Personen, z. B. Partner und Vater, welche die empfundene Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit wiedergeben.  Einfachere Parameter sind die Varianzen der einzelnen Konstrukte und Elemente, die z. B. etwas aussagen über die Differenzierungsfähigkeit eines Konstrukts hinsichtlich der Elemente oder die Differenziertheit in der Wahrnehmung (bzw. Beurteilung) eines Elements, und der Varianzanteil der 1. Komponente der Hauptkomponentenanalyse. 

Bei der Analyse von Repgrids ermöglicht diese Art der Auswertung die Ermittlung einer Assoziation von Elementen und Konstrukten, und dies auf der Grundlage einer Struktur von gegenüber der Ausgangsmatrix reduzierter Dimensionalität.  Man erhält - angesichts der Größe der Matrizen nicht überraschend - in der Regel 2 - 3 Hauptkomponenten, die sich durch die zugeordneten Konstrukte beschreiben lassen. Dies sind die Hauptdimensionen, die ein Mensch verwendet, um über seine Konstrukte seine wichtigen Bezugspersonen zu beurteilen. Diese Personen lassen sich ihrerseits durch ihre Lage bezüglich dieser Dimensionen charakterisieren. Beziehungen zwischen Konstrukten (etwa in Form von Korrelationen) lassen sich im Hinblick auf Inkonsistenzen analysieren.

Für überindividuelle Auswertungen etwa in Gruppen eignen sich abgeleitete Parameter, z. B. Strukturmerkmale von Grids. Einige derartige Kennwerte wurden bereits genannt: Distanzen zwischen Selbst und Ideal, Selbst und anderen, Varianzanteil der 1. Hauptkomponente, Korrelationen zwischen ausgewählten, u. U. vorgegebenen Konstrukten etc. 

Als psychodiagnostisches Verfahren ähnelt die Repgrid-Technik einem vom Probanden selbst konstruierten Fragebogen, der auf eine Reihe von Personen angewandt wird, wobei die einzelnen Items dieses Fragebogens, eben die Konstrukte, ihrerseits unter Berücksichtigung der zu beurteilenden Personen, der Elemente, gewonnen werden. Nicht nur andere Personen (nämlich die Rollenträger) sind Kristallisationskerne des Konstruktsystems, auch der Proband selbst. Erkennbar sind technische Ähnlichkeiten z. B. mit Q-Sort-Verfahren oder Prozeduren, wie sie etwa in der Gesprächspsychotherapie nach Rogers verwendet werden, um Selbst-Ideal-Kongruenz zu erfassen. Kennzeichnend für das Repgrid ist demgegenüber zum einen, daß der Proband seine eigenen Konstrukte verwendet, zum anderen, daß auch seine wichtigen Bezugspersonen systematisch mit berücksichtigt werden. Testgütekriterien wie Reliabilität und Validität sind in der üblichen Weise nur eingeschränkt anwendbar, da sie, an Kollektiven bestimmt, überindividuell einheitliche "Testwerte" erfordern, die ein "idiographisches" Verfahren nicht von vornherein liefert. Am ehesten sind derartige Kriterien für abgeleitete Parameter oder Teilaspekte bestimmbar, etwa die Höhe der Konstruktbeziehungen, Differenziertheit des Konstruktsystems, Zuordnung von Elementen zu Rollenbezeichnungen in zeitlichem Abstand, Distanzen zwischen Elementen.

Literatur

Kelly, George A. (1955). The psychology of personal constructs. New York: Norton.

Kelly, George A. (1986). Die Psychologie der persönlichen Konstrukte. Paderborn: Junfermann.

Scheer, Jörn W. (1992). Psychologie der persönlichen Konstrukte und Repertory Grid-Technik. Ein idiographischer Ansatz in klinischer und medizinischer Psychologie (S. 273-290). In L. R. Schmidt (Hrsg.), Psychologische Aspekte medizinischer Maßnahmen. Jahrbuch der medizinischen Psychologie, Band 7. Berlin: Springer.

Überblick über einige Psychotherapierichtungen und -schulen



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