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Entwicklung von Familienbeziehungen im Jugendalter

Entwicklung und Veränderung innerfamiliärer Beziehungen

Laut Schneewind (Oerter, R. & Montada, L. 2002, S. 106) erfolgt „die Entwicklung von familiären Beziehungen über Interaktion und Kommunikation. Dabei schaffen die Beziehungspartner durch wiederholte Interaktionen mehr und mehr eine gemeinsame Beziehungsgeschichte und werden damit zu gemeinsamen Konstrukteuren ihres Beziehungssystems, das sich ständig weiterentwickelt.“

Unter den Grundannahmen der Familienentwicklungstheorie versteht Aldous (zit. nach Schneewind 1996, S. 108) zum einen, dass das familiäre Verhalten im „Hier und Jetzt“ von den einzelnen, individuellen Erfahrungen der einzelnen Familienmitglieder abhängt und auch das zukünftige Verhalten mitbestimmt. Zum anderen trifft Aldous (1996, S. 108) die Annahme, dass Familien, die sich in der gleichen Lebensphase befinden auch sehr ähnliche Verhaltensmuster aufweisen (vgl. Oerter & Montada, 2002, S. 108).

Nach Schneewind (vgl. Oerter, R. & Montada, L. 2002, S. 111) bestimmt innerhalb eines Familiensystems vor allem die Anzahl der Familienmitglieder die Komplexität und Art der Beziehungskonstellation.

Abschnitte des Familienzyklus

Nach Carter und McGoldrick (vgl. Carter und McGoldrick zit. nach Schneewind in Oerter & Montada 2002, S. 108) teilt sich der Familienlebenszyklus in sechs Abschnitte, die sich vor allem in den Familienentwicklungsaufgaben unterscheiden:

Verlassen des Elternhauses

Entwicklungsaufgabe: Die zentralen Themen in dieser Phase stellen die eigene Abkoppelung von der Herkunftsfamilie, die Entwicklung intimer Beziehungen zu Gleichaltrigen und das Eingehen eines Arbeitsverhältnisses und finanzielle Unabhängigkeit dar.
Verhalten: (siehe „Entlassen des Kindes und nachelterliche Phase“)

Die Verbindung von Familien durch Heirat

Entwicklungsaufgabe: Vor allem in diesem Abschnitt der Familienentwicklung liegt der Schwerpunkt in der Neuorientierung der Beziehungen mit den erweiterten Familien und Freunden, um den Partner einzubeziehen.

Familien mit jungen Kindern

Entwicklungsaufgabe: Die Familienentwicklungsaufgabe in dieser Phase setzt sich vor allem daraus zusammen, dass die jungen Eltern das Ehesystem darauf anpassen, dass Raum für Kinder entsteht. Weiters betrifft die Entwicklung in diesem Abschnitt auch das Aufteilen der Aufgaben der Kindererziehung und des Umgangs mit Geld und der Haushaltsführung. Als zusätzliche Entwicklungsaufgabe ist die Neuorientierung der Beziehung mit der erweiterten Familie – der Einbezug der Eltern- und Großelternrolle – zu sehen.
Verhalten: Sind die Kinder noch im Säuglingsalter, sind diese völlig abhängig von ihren Eltern, welche ihnen Pflege, Schutz und Fürsorge bieten.
Jungen Kindern müssen Eltern angemessene Beschränkungen und Grenzen zeigen und als Verhaltensmodell für kindliche Imitation verfügbar sein. Die jüngeren Kinder erleben somit eine psychologische Trennung von den Eltern, sie streben nach Autonomie und spiegeln und imitieren das elterliche Verhalten. Dagegen sind ältere Kinder auch Suche nach Individualität und ihre Eltern sollen das Kind gehen und wachsen lassen, Sensibilität für die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse zeigen und Gelegenheiten für die Eigenaktivität des Kindes entsprechend seinen Fähigkeiten bereitstellen (vgl. Cusinato zit. nach Schneewind in Oerter & Montada 2002, S. 118).

Familien mit Jugendlichen

Entwicklungsaufgabe: Als zentrale Aufgabe dieses Abschnittes ist für die Eltern zu sehen, dass sie den Jugendlichen ermöglichen, sich innerhalb und außerhalb des Familiensystems bewegen zu können. Weitere Aufgaben in dieser Phase stellen die neue Konzentration auf die ehelichen und beruflichen Themen der mittleren Lebensspanne sowie die Hinwendung auf die gemeinsame Pflege und Sorge für die ältere Generation dar.
Verhalten: Während die Eltern die Jugendlichen bei der Rollen- und Identitätsentwicklung unterstützend und bei generationsspezifischen unterschieden Toleranz zeigen, entwickeln die Jugendlichen eine Selbstbild und eigene Identität (vgl. Cusinato zit. nach Schneewind in Oerter & Montada 2002, S. 118).

Entlassen der Kinder und nachelterliche Phase

Entwicklungsaufgabe: Die Aufgaben dieser Phase der Familienentwicklung bestehen vor allem darin, das Ehesystem als Zweierbeziehung neu auszuhandeln, die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern mit Erwachsenenqualität zu entwickeln, Schwiegersöhne und –töchter in die Beziehung zu integrieren und der Auseinandersetzung mit Behinderungen und den Tod der Eltern.
Verhalten: Während die Eltern das erwachsene Kind gehen und unabhängig sein lassen, eine Erwachsenenbeziehung mit dem Kind akzeptieren und ihm mit Ermutigung, Bestätigung und Wertschätzung zur Seite stehen sollen, besteht das Verhalten der Kinder in relativer Unabhängigkeit von den Eltern, der Entwicklung einer Erwachsenenbeziehung mit den Eltern und – falls erforderlich – der Suche nach Orientierung und Unterstützung durch die Eltern (vgl. Cusinato zit. nach Schneewind in Oerter & Montada 2002, S. 118).

Familien im letzten Lebensabschnitt

Entwicklungsaufgabe: Während die zentralen Aufgaben der vorangegangenen Familienentwicklungsabschnitte vor allem im Bereich der Einbeziehung der Kinder und deren Partner in die Familienbeziehung lagen, steht in dieser letzten Phase die Auseinandersetzung mit der Gesundheit und dem Leben der eigenen Person und des Partners im Mittelpunkt.
Verhalten: Es erfolgt eine Rollenumkehr, indem sich die erwachsenen Kinder um die gealterten und gebrechlichen Eltern kümmern (vgl. Cusinato zit. nach Schneewind in Oerter & Montada 2002, S. 118).

Wie in der eben angeführten Darstellung der verschiedenen Phasen der Familienentwicklung ersichtlich ist, sind die Eltern für die Pflege, Betreuung und Erziehung ihrer Kinder in der Zeit, bis die Kinder für sich selbst sorgen können, zuständig. Später jedoch, kommt es zu einer so genannten „Rollenumkehr“, was bedeutet, dass die erwachsenen Kinder, wenn die Eltern gebrechlich werden, Verantwortung für deren Pflege und Betreuung übernehmen (Schneewind, S. 117).

Familiäre Unterstützungsbeziehungen und Familientypen

Die Familie ist ein komplexes System, indem sich die Mitglieder gegenseitig beeinflussen. Um die Verknüpfungen und die Abhängigkeit von Beziehungen messen zu können, hat man in einer Studie die Clusteranalyse verwendet, anhand dieser die „wahrgenommenen Unterstützung“, darunter versteht man materielle, praktische und emotionale Unterstützung aber auch soziale Integration, der einzelnen Familienmitglieder gemessen wurde (vgl. Schauerte et al 2003, S. 130).

Van Lieshout und Van Aken (1995) zit. nach Schauerte et al 2003 unterscheiden vier Modalitäten von Unterstützung:

  1. die affektive Modalität: darunter versteht man die emotionale Unterstützung in einer Beziehung und den Respekt vor der Autonomie des anderen.
  2. die kognitive Modalität. dabei geht es um die Informationen, die innerhalb der Beziehung ausgetauscht werden, die entweder qualitativ hochwertig oder eher verfälschte sein können.
  3. die motivationale Modalität: sie konzentriert sich u.a. auf die gemeinsamen Ziele, Auffassungen und Ideen der Beziehungspartner.
  4. und die Akzeptanz.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Eltern, die von anderen Personen, emotional unterstützt werden, viel besser auf ihre Kinder eingehen können, da sie selbst Konflikte und Frustration durch die Unterstützung anderer, verhindern können. Daraus resultiert, dass Jugendliche die aus konfliktreichen Familien stammen eher depressives und anti-soziales Verhalten zeigen, als solche, die aus harmonischen Familienbeziehungen kommen (vgl. Schauerte et al 2003, S. 131).

In einer weiteren Studie, welche Teil eines Forschungsprojektes in den Niederlanden ist, hat man anhand der Clusteranalyse häufig auftretende Variablen herausgefiltert, die zeigen sollen, inwiefern sich eine Person durch eine andere innerhalb der Familie unterstützt fühlt, um so verschiedene Familientypen zu finden.

Insgesamt gilt es bei der Studie herauszufinden, inwieweit die einzelnen Personen innerhalb einer Familie verschiedene Eigenschaften aufweisen und weiters um die Zusammenhänge der sozialen Beziehungen innerhalb der Familie. Die untersuchten Familien weisen dabei die Eigenschaften auf, dass es sich um Familien mit zwei Elternteilen und zwei Kindern handelt. Um die relevanten Daten erfassen zu können, haben die Mitarbeiter der Studie die Familien besucht und anhand eines Fragebogens versucht, die wahrgenommene Unterstützung, das Problemverhalten und das Wohlbefinden der Familienmitglieder zu untersuchen. Dabei fand man heraus, das die größten Unterschiede zwischen der Akzeptanz und der emotionalen Unterstützung liegt, da es jeweils eine unterschiedliche Auffassung seitens der unterstützenden Person und derjenigen, die unterstützt wird, gibt. Jedoch die wenigsten Unterschiede fand man bei der Skala „Respekt vor der Autonomie und der Qualität von Informationen“ (vgl. Schauerte et al 2003, S. 132 ff).

Um das Wohlbefinden und eventuelles Problemverhalten zu erheben, bat man die Familien-mitglieder sich selbst und die anderen Personen unter Zuhilfenahme von Items zu beschreiben, worauf sechs verschiedene Familientypen entstanden sind: Im ersten Familientyp existiert mehr Unterstützung bei den Müttern und dem älteren Kind, als beim Vater und dem jüngeren Kind (18% der Stichprobe).

Beim zweiten Familientyp gibt es ein eher negatives Unterstützungsniveau der Mutter („zurückstehende Mutter“) als bei den anderen Personen innerhalb der Familie (34% der Stichprobe). Im dritten Familientyp fühlt sich niemand aufgrund der Unterstützung benachteiligt(14% der Stichprobe) und beim vierten Familientyp zeigt das Ergebnis, dass ein positives Unterstützungsniveau der Eltern im Gegensatz zu einem negativen Unterstützungsniveau der Kinder empfunden wird (11% der Stichprobe).

Beim fünften Familientyp gibt es einen „zurückstehenden Vater“, der als einziger sich innerhalb der Familie nicht genügend unterstützt von den anderen fühlt. Darüber hinaus, fühlt sich in diesem Familientyp das jüngste Kind sehr stark positiv unterstützt(14% der Stichprobe). In Familientyp sechs fühlt sich keines der Familienmitglieder vom anderen unterstützt, diesem Typ gehören 10% der Stichprobe an. Weitere Tests ergaben, dass sich Personen im Familientyp drei am ehesten wohl fühlen und es hier eher selten zu einem Problemverhalten kommt, ganz im Gegensatz zum Familientyp sechs. Ein überraschendes Ergebnis eines Tests war, dass sich das positive Unterstützungsniveau des Vaters nicht auf das positive Empfinden eines anderen Familienmitgliedes überträgt. Weiters kann man anhand der eigenen und wahrgenommenen Unterstützung der anderen Familienmitglieder, inwieweit es in der Zukunft zu Problemverhalten und Wohlbefinden kommen kann. Die Testergebnisse zeigen uns, dass es bei Störungen bei Kindern notwendig ist, sich nicht nur auf das Kind zu konzentrieren, sondern auch auf die Beziehungen zwischen den anderen Familienmitgliedern. Weiters wird angenommen, dass die wahrgenommene Unterstützung innerhalb der Familie sich auch auf die außerfamiliären Beziehungen der Personen überträgt. Es ist außerdem noch anzumerken, dass die Studien gezeigt haben, dass die wahrgenommene Unterstützung nicht zwingend die tatsächliche Unterstützung sein muss, sich diese aber zumeist aus der Erwartung über die Unterstützung des anderen ergibt (vgl. Schauerte et al 2003, S. 135 ff).

Soziale Kognition

Unter sozialer Kognition versteht man …“das bleibende Wissen über psychische Vorgänge von Menschen und die Welt sozialer Geschehnisse, als auch den akuten Prozess des Verstehens von Menschen, ihrer Beziehungen sowie der sozialen Gruppen und Institutionen an denen sie teilhaben“… (vgl. Shantz zit. nach Oerter 2002, S. 590).

Vorerst ist anzumerken, dass Kinder die Strukturen von Familienbeziehungen und sozialen Ereignissen früher verstehen lernen, als mit Maßen wie Menge oder Länge zu Recht zu kommen. Die Eltern als Vorbild spielen bei der Förderung von sozialer Kognition eine große Rolle, da beispielsweise feinfühlige Mütter ihre eigenen sozialen Präferenzen auf die eigenen Kinder übertragen. Andererseits, wenn die Mutter im Erwachsenenalter der Kinder emotional überfordert ist, dann kann sich ihre Bereitschaft zur Unterstützung der Kinder vermindern. Weiters kann der Austausch innerhalb der Familie maßgeblich für die Entwicklung von sozialer Kognition sein. Wenn die Eltern an Depressionen oder anderen psychischen Auffälligkeiten leiden, dann überträgt sich dies dahingehend auf die Kinder, dass sie innerhalb sozialen Beziehungen die Perspektiven, Gefühle oder Bedürfnisse von anderen Personen nicht deuten können (vgl. Silbereisen und Ahnert 2002 zit. nach Oerter 2002, S. 608 ff).


Jugend-Jargon muss erduldet werden, aber Kinder finden es peinlich, wenn sich ihre Eltern diesen Jargon selbst zulegen.
Christine Nöstlinger

Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern

In der Phase der Adoleszenz versuchen die Jugendlichen ihr Verhältnis zu Autoritätspersonen wie zum Beispiel ihren Eltern neu zu ordnen. Die Jugendlichen wollen unabhängig von jenen Personen sein, durch die sie in ihrer Kindheit bevormundet wurden. Dieses Streben nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit ruft oft Unverständnis bei den Eltern hervor (vgl. Mietzel 2002, S. 379).

Die Jugend wurde von den älteren Generationen schon immer kritisiert. Es wurde schon immer ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen den Generationen behauptet (vgl. Mietzel 2002, S. 379 f).

Neuordnung der Eltern-Kind Beziehung

In der letzten Zeit hat sich die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern stark verändert. Auf diese Veränderungen soll im Folgenden eingegangen werden.

Autoritätsverlust der Eltern

Noch vor 50 Jahren haben Eltern im Vergleich zu heute deutlich mehr Macht besessen. Traten Kinder damals in das Alter der Adoleszenz ein, war eine Rebellion gegen die Autorität der Eltern fast unausweichlich (vgl. Mietzel 2002, S. 380).

Die Eltern haben bis heute deutlich an Autorität verloren. Dies liegt auch daran, dass Eltern ihren Kindern gegenüber oft als Freunde und nicht als Autoritätspersonen gegenübertreten. Entscheidungen werden oft gemeinsam mit den Kindern getroffen und diesen nicht mehr aufgezwungen. Dies hat dazu geführt, dass Eltern das Verhalten ihrer Kinder nicht mehr durch Anordnungen kontrollieren können. So müssen Freiräume und Einschränkungen in Gesprächen ausgehandelt werden (vgl Mietzel 2002, S. 380).

Elterliche Kontrolle

Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass pubertierende Jugendliche, die von ihren Eltern zu sehr kontrolliert werden, nicht mehr deren wahren Intentionen erkennen können. Man legte Kindern im Alter von 13 und 17 Jahren einen Fragebogen vor, in dem sie ihre eigene Reaktion bei zahlreichen hypothetischen Szenarien einschätzen mussten. Dabei gibt es zwei Arten der Elternkontrolle:

Während die Jugendlichen die erste Form der Kontrolle grundsätzlich akzeptierten, löste die psychologische Kontrolle eher Widerstand aus bzw. verliert ab einer gewissen Grenze die beabsichtigte Wirkung.

Gefühlsbindung zwischen Eltern und Kindern

Eltern haben ihren Kindern gegenüber die Verantwortung, für deren Lebensunterhalt und deren Ausbildung zu sorgen. Da sich die Ausbildungszeit verlängert hat bleiben Jugendliche immer länger in ihrer Familie. Dies wiederum hat zu einer Intensivierung der emotionalen Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern geführt (vgl. Mietzel 2002, S. 380 f).

Konflikte zwischen Eltern und Kindern

Hans Oswald (zit. nach Mietzel 2002, S. 381) stellte fest, dass die Mehrheit der Jugendlichen angibt, ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Verhältnis konfliktfrei verläuft. Vor allem in der frühen Adoleszenz treten vermehrt Konflikte zwischen Kindern und ihren Eltern auf. Die Kinder entziehen sich immer mehr der häuslichen Kontrolle der Eltern und fordern höhere finanzielle Zuwendungen. Diese Konflikte können aus entwicklungspsychologischer Sicht als eine Art „Experimentierfeld für Jugendliche“ (Mietzel 2002, S. 381) gesehen werden. Würden sich Jugendliche nämlich niemals gegen ihre Eltern durchsetzen wollen, wäre zu befürchten, dass die Jugendlichen keine Bedingungen zur eigenen Identitätsentwicklung vorfinden. Auftretende Konflikte sind also ein Zeichen dafür, dass die Jugendlichen bemüht sind eine eigene Selbständigkeit zu entwickeln.

Zwei Drittel der österreichischen Jugendlichen fühlen sich nach einer Studie des Marktforschungsinstitutes "Tfactory" in der Schule stark unter Druck. Besonders betroffen ist dabei die Gruppe der 11- bis 14-Jährigen: 75 Prozent gaben an, dass sie in Arbeit und Schule "stark" unter Druck stünden und dass die Belastungen "von Jahr zu Jahr" größer würden. Eine besondere Rolle beim Stressaufbau spielen die Eltern, denn 55 Prozent der Jugendlichen fühlen sich von den Eltern besonders gedrängt und getrieben, wenn es um Leistung in der Schule geht.

Die Konfliktthemen haben sich laut dem Jugendwerk der deutschen Shell (zit. nach Mietzel 2002, S. 381) in den letzten Jahren kaum verändert. In den häuslichen Streitgesprächen geht es vor allem darum wie viele Freiheiten den Jugendlichen durch die Eltern eingeräumt werden. Weitere Themen sind die Kleidung, die Sauberkeit des Zimmers oder die Freunde der Jugendlichen (vgl. Mietzel 2002, S. 381 f).

Bei vielen Konflikten zwischen Eltern und ihren pubertierenden Kindern stehen eher oberflächliche Themen im Vordergrund. Judith Smetana (zit. n. Mietzel 2002, S. 382) hat festgestellt, dass viele Konflikte auf die unterschiedlichen Sichtweisen der Eltern und der Kinder zurückzuführen sind. Eltern meinen, sie müssten dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder keine Konventionen verletzen. Die elterliche Kontrolle wiederum wird von den Kindern als unberechtigter Eingriff in ihre persönlichen Angelegenheiten gesehen. Solche Konflikte treten in der frühen Adoleszenz am Häufigsten auf. Im Laufe der Jahre entwickeln die Eltern und die Kinder ein neues Verständnis füreinander, was dazu führt, dass die Konflikte seltener auftreten (vgl. Mietzel 2002, S. 382 f).

Für die Eltern ist die Zeit in der häufig Konflikte mit den Kindern auftreten sehr belastend. Sie müssen all ihre Standpunkte, Anordnungen und Vorstellungen vor ihren Kindern Rechtfertigen. Oft werden die Standpunkte der Eltern von den Kindern abgelehnt (vgl. Mietzel 2002, S. 383).

Die Loslösung vom Elternhaus ist oft ein konfliktbehafteter Prozess. Diese stellt allerdings auch eine notwendige Entwicklungsaufgabe dar, damit der Jugendliche in das Erwachsenenalter eintreten kann.


In der Konstellation zwischen Geschwistern ist alles möglich: von Best Buddy bis zu Erbfeind, von Symbiose bis zu Mord. Familiendynamiken nicht zu vergessen, die es in sich haben: Bist du die Erstgeborene, Sandwichkind oder Nesthäkchen? Und jedes Kind hat andere Eltern – es gibt Lieblingskinder, schwarze Schafe, es gibt alles.

Die Beurteilung der Geschwisterbeziehung

Die Geschwisterbeziehung ist gewöhnlich die am längsten andauernde Beziehung im Leben, denn Geschwister haben einen Sonderstatus unter den Bezugspersonen: Man wählt sie nicht freiwillig und die Beziehung ist unkündbar. Besonders in der Kindheit nehmen Geschwister gleich nach den Eltern eine immens wichtige Rolle ein, denn drei- bis fünfjährige Kinder interagieren etwa doppelt so viel mit Geschwistern als mit ihrer Mutter. In Bezug auf die Geschwisterbeziehung gibt es eine Art U-Kurve, denn auf eine starke Verbundenheit in der Kindheit und Jugend folgt in den Jahren des Berufseinstiegs und der eigenen Familiengründung oft eine Phase der Loslösung. Mit zunehmendem Alter vertiefen sich aber die Bande meist wieder, und auch selbst wenn eine Beziehung sehr konflikthaft war und der Kontakt zeitweise abgebrochen war, kann die Beziehung immer reaktiviert werden. In Befragungen zeigte sich, dass Geschwister nach den Eltern und dem besten Freund oder der besten Freundin die wichtigsten Gesprächspartner sind. Der gewichtige Einfluss von Geschwistern darauf, wie Menschen die Welt sehen, bedeute aber nicht, dass Brüder und Schwestern immer die gleiche Grundhaltung besitzen, denn gerade in der Auseinandersetzungen, in vertieften Gesprächen und in der Abgrenzung von anderen werden die eigenen Positionen und Werthaltungen erst oft bewusst. Auch an Reibungsflächen mangelt es in Geschwisterbeziehungen nicht und nach Expertenansicht ist das Pendeln zwischen Freund- und Feindschaft, zwischen Zusammenhalt und Konkurrenz, nicht selten. Im Gegensatz zu vielen Freundschaften ist die Geschwisterbeziehung emotional höchst aufgeladen, wodurch offener kommuniziert wird, auch was Kritik betrifft, denn schließlich muss man bei Geschwistern nicht Angst haben, dass sie einem abhandenkommen. Geschwister sind auch ein optimales Trainingsfeld für den Erwerb sozialer Kompetenzen sind, d. h., Kinder lernen dabei, zu streiten, sich zu versöhnen, sich durchzusetzen und nachzugeben, sich zu solidarisieren, Regeln aufzustellen und Kompromisse zu schließen. Da sind ein komplexes Netz an Faktorenwie das konkrete Lebensumfeld und der Umgang der Eltern mit den Kindern entscheidender als etwa die bloße Rangposition. Wie sich Kinder entwickeln und wie gut sie miteinander auskommen, hängt stark davon ab, wie in der Familie Fairness gelebt wird, wie Eltern mit Konflikten umgehen und Individualität fördern. Dass Erstgeborene bessere Noten haben und sich häufiger für Studiengänge entscheiden, die zu besser bezahlten Jobs führen, ist wohl darauf zurückzuführen, dass Eltern ihnen mehr Zeit und Fürsorge widmen. Allerdings ist der Effekt minimal, wobei sich der Unterschied mit dem Tutor-Effekt erklären lässt, d. h., die Älteren profitieren davon, dass sie den Jüngeren etwas beibringen, denn das festigt ihr Wissen und stärkt die kognitiven Fähigkeiten. Ältere haben außerdem oft eine Vorbild- und auch Wegbereiterfunktion, denn wenn etwa das älteste Kind als erstes in der Familie die Matura macht, öffnet das ganz neue Möglichkeiten für die jüngeren. Übrigens sind bei Trennungen und in krisenhaften Familiensituationen Geschwister oft eine unersetzliche Stütze sein. Das Vorurteil, dass Kinder mit Geschwistern einen Vorteil gegenüber Einzelkindern haben, muss relativiert werden, denn die positiven Effekte etwa auf soziale Kompetenzen zeigen sich dann am deutlichsten, wenn der Altersabstand gering ist und die Geschwister gleichgeschlechtlich sind (Krichmayr, 2019).

Zwillinge sind seit je her interessante Forschungsobjekte in bezug auf Intelligenz, Wachstum, Verhaltensweisen, usw. Zwillinge können unterschiedlichen Zwillingskategorien zugeordnet werden. Dabei wird zwischen monozygoten und dizygoten Zwillingen, gemeinsam aufwachsenden und getrennt aufwachsenden sowie gleichgeschlechtlichen und gegengeschlechtlichen Zwillingspaaren unterschieden. Fakt ist, dass Zwillinge stark aufeinander bezogen sind und ineinander eine wichtige Bezugsperson sehen (hohen Zugang zueinander). Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass Zwillinge gleichzeitig aufwachsen, mehr Zeit miteinander verbringen, gleiche Interessen und Erbanlagen haben (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S. 196f.).

Die Geschwisterbeziehung wird für Nicht-Zwillinge meist als Möglichkeit einer eigenen Positionierung verstanden, die dabei hilft, sich individuell, durch Abgrenzung und gegenseitige Unterstützung, zu entwickeln. Man ist sich vertraut und nahe. Während der Pubertät entsteht jedoch der Wunsch anders zu sein als der andere. Unterschiede werden bewusst gesucht und betont (Deidentifikation). Geschwisterbeziehungen sind in ihrer Ausprägung von Nähe und Distanz sehr unterschiedlich. Bisherige Studien lassen vermuten, dass bei Zwillinge aufgrund der größeren Bezogenheit aufeinander und der stark ausgeprägte Ähnlichkeit die gegenseitige Wahrnehmung größer ist als bei Nicht-Zwillingen. Daher müssten monozygote Zwillinge die Geschwisterbeziehung am einheitlichsten, gegengeschlechtliche Geschwisterkinder die Beziehung am uneinheitlichsten beurteilen (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S. 197f).

Ziel einer Studie war es, herauszufinden, ob Zwillinge ihre Beziehung zueinander wesentlich ähnlicher beurteilen als andere Geschwister und somit die oben angeführten Vermutungen eventuell zu bestätigen. Um den Unterschied zwischen den Geschwistergruppen über einen längeren Zeitraum darstellen zu können, wurde diese Untersuchung zu drei Messzeitpunkten durchgeführt. Für diese Studie wurde der Entwicklungsabschnitt der Pubertät gewählt, da die Kinder in dieser Zeit eine starke Identitätsentwicklung durchmachen (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S. 198). An der Studie nahmen zu Beginn insgesamt 107 Geschwisterpaare aus fünf verschiedenen Geschwisterkonstellationen teil, die Teilnehmerzahl nahm bis zu T3 leicht ab. Die Unterscheidung der Zwillingsgruppen ist bedeutsam, da die Zygosität der Kinder für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede eine wichtige Rolle spielt“ (Watzlawik & Clodius 2007, S. 198). Die Daten zur Befragung der Geschwisterbeziehung sind im Rahmen des Braunschweiger Zwillings- und Geschwisterprojekts erhoben worden. Innerhalb dieses Projekts wurden die Kinder zu Hause durch geschulte Interviewer zeitgleich und getrennt von einander befragt (Dauer ca. 1,5 Stunden). Die Eltern wurden ebenfalls gebeten, Fragebögen auszufüllen (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S. 199). Es wurde dazu ein neuer Fragebogen entwickelt, der unter anderem die wichtigsten Aspekte, die sich in der Forschung als bedeutsame Größen zu Charakterisierung der Geschwisterbeziehung erwiesen haben berücksichtigt, aber auch die speziell für die Zwillingssituation wichtigen Aspekte aufgreift. So entstand ein Fragebogen mit insgesamt 44 Items, die die vier wichtige Aspekte der Geschwisterbeziehung wiedergeben: Äußere Einflüsse, phänotypische Aspekte, behaviorale Aspekte und emotionale Komponenten. Antwortmöglichkeiten waren jeweils trifft zu oder nicht (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S.199).

Es stellte sich heraus, dass monozygote Zwillinge ihre Beziehung zueinander wesentlich ähnlicher beurteilen als andere Geschwister. Monozygote Zwillinge nehmen diesbezüglich eine Sonderstellung ein, der genetischen Ähnlichkeit kommt hier eine entscheidende Bedeutung zu. Längsschnittlich zeigt sich für alle Geschwistergruppen ein Absinken der Übereinstimmung bei der Beurteilung der Geschwisterbeziehung, was die im Jugendalter zu beobachtende Ablösung der Geschwister voneinander verdeutlicht (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S. 203).

In der vorliegenden Studie hat die Geschwisterkonstellation keinen signifikanten Einfluss auf die Bewertung der emotionalen Komponente. Als Faktoren für die Besonderheit der Zwillingsbeziehung werden hier die gemeinsam verbrachte Zeit, das gemeinsame Schulumfeld und die betonte Ähnlichkeit genannt.

Weiters wird angemerkt, dass die Gleichgeschlechtlichkeit der Geschwister mit fortschreitendem Alter ein entscheidendes Kriterium für die Beziehungsgestaltung ist. Gleichgeschlechtlichen Geschwistern interagieren häufiger miteinander und imitieren sich auch öfter. Die Abgrenzung zu einem gegengeschlechtlichen Geschwister fällt während der Pubertät aufgrund von unterschiedlichen Interessen und Entwicklungstempo offensichtlich leichter (vgl. Watzlawik & Clodius 2007, S. 203f).

In kaum einer anderen Beziehung liegen Hass und Liebe, Nähe und Rivalität so nah beieinander wie unter Geschwistern, denn es ist die längste Beziehung im Leben eines Menschen und sie endet praktisch nie, selbst wenn man sich zerstritten hat. Geschwisterbeziehungen wirken fort, auch wenn sich die Geschwister getrennt haben oder kein Kontakte mehr existiert, denn das Verhältnis zur Schwester oder zum Bruder hat etwas Schicksalhaftes. Deshalb hassen und lieben sie sich manchmal gleichzeitig, beglücken, quälen und prägen einander, wobei manche Wissenschaftler überzeugt sind, dass die Geschwisterbeziehung das Glück auch in der Partnerschaft beeinflusst. Nach Ansicht des Psychologen und Geschwisterforschers Walter Toman gilt, dass neue soziale Beziehungen unter sonst vergleichbaren Umständen umso erfolgreicher und dauerhafter sind, je ähnlicher sie früheren Beziehungen innerhalb der Familie sind. Wer mit Geschwistern aufgewachsen ist, wünscht sich meistens selbst eine Familie mit mindestens zwei Kindern und sogar die Mehrheit der Einzelkinder will den eigenen Nachwuchs nicht als Einzelkind großziehen. Diese Sehnsucht nach Geschwistern kommt vermutlich daher, dass Menschen grundsätzlich das Bedürfnis nach Nähe haben. Tomans Theorie von der Geschwisterkonstellation stellen andere Forscher in Frage, denn Kinder werden heute individueller erzogen, sind nicht mehr "typisch Einzelkind" oder "typisch ältere Schwester". Heutzutage geht man davon aus, dass sich der Mensch ein Leben lang entwickelt und die frühkindliche Prägung nicht mehr so entscheidend ist. Partnerschaftliche Liebesbeziehungen werden weniger von den Geschwistern, sondern vielmehr stärker von den Eltern geprägt (siehe hierzu die Imago Paar Therapie), denn ist diese von Zärtlichkeit und behutsamem Umgang geprägt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Kinder eines solchen Paares eine zärtliche Partnerschaft leben können.

Ob Menschen als Einzelkinder oder mit Geschwistern aufwachsen kann übrigens auch die Entwicklung des Gehirns entscheidend beeinflussen, wobei die unterschiedliche Familiensituation eine unterschiedliche strukturelle Entwicklung des kindlichen Gehirns bewirken kann. Untersucht (Yang et al., 2017) wurden Studenten, die in einer Familie mit zwei Elternteilen aufgewachsen waren, wobei diese neben Gehirnspans auch Kreativitäts- und Intelligenztest und Persönlichkeitstest durchführen mussten. Es zeigten sich bei Volumenunterschiede der grauen Substanz im Gehirn, wobei diese bei Einzelkindern in jenem Bereich ausgeprägter war, der mit der Vorstellungskraft zusammenhängt, jedoch war sie schlechter in den Arealen entwickelt, der mit sozialem Verhalten in Verbindung steht. Einzelkinder schnitten bei Kreativitätstests besser ab, bei den Verhaltenstests hingegen schlechter.

Geschwisterposition

Bekanntlich beschäftigt die Frage, ob die Geschwisterposition einen Einfluss auf die Persönlichkeit hat, Wissenschaftler schon seit weit über hundert Jahren, wobei es sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der Laien-Psychologie vielfältige Annahmen bestehen, denn so sollen Erstgeborene etwa besonders perfektionistisch, Sandwichkinder hingegen kooperativ und Nesthäkchen rebellischer sein.  Eltern sind bekanntlich oft überrascht, wie stark sich die Persönlichkeit ihrer Kinder unterscheidet und fragen sich, ob ihre Erziehungsmethoden Einfluss darauf haben. Die Geschwisterforschung hat schon seit geraumer Zeit die Einflüsse der Geburtenfolge auf die Persönlichkeit untersucht, und dabei festgestellt, dass die Erstgeborenen oft in die Beschützerrolle schlüpfen und sich verantwortungsvoll zeigen, da sie hoffen, dadurch die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erhalten. Mit der Geburt eines zweiten Kindes werden die ältesten Kinder entthront, d. h., sie müssen sich die Liebe und die Aufmerksamkeit, die ihnen bisher uneingeschränkt galt, plötzlich mit jemandem teilen. Während die Erstgeborenen daher häufig als perfektionistisch gelten, die gewissenhaft ihre Aufgaben erledigen und gerne Verantwortung übernehmen, scheinen Letztgeborene häufiger entspanntere Kinder zu sein, die sich meist ihrer Privilegien bewusst sind und häufig als verwöhnt gelten. Die Eltern sind bei ihnen weniger streng und zeigen sich auf Grund ihrer Erfahrungen meist gelassener, wobei der jüngste Nachwuchs oft verwöhnt wird und nicht so viel von ihm erwartet wird, was allerdings die älteren Geschwister häufig als ungerecht empfingen. Am leichtesten haben es diese Kinder vermutlich deshalb, weil sie in den Genuss von Privilegien kommen, die ihre größeren Geschwister bereits erstritten und erkämpft haben. Vor allem der Wiener Psychologe Walter Toman betrieb Forschungen über Familienstrukturen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit, der sozialen Beziehungen und deren Störungen ("Family Constellation" 1961).

Solche Vorurteile hinsichtlich der Geschwisterposition scheint eine neuere Umfrage zu untermauern, denn mehr als fünfzig Prozent der Erstgeborenen gab dabei an, ein höheres Verantwortungsbewusstsein zu haben als ihre jüngeren Geschwister, und etwa die Hälfte der Nesthäkchen beschrieb sich als entspannter und humorvoller als ihre älteren Geschwister. Besonders schwer haben es die mittleren Kinder (Sandwichkinder) ihre Position zu finden, denn sie sind kleine und große Schwester oder Bruder gleichzeitig, und meist sind sie auch diejenigen, die Streitigkeiten zwischen den älteren und den jüngeren Kindern schlichten müssen. Während ein Erstgeborener als verantwortungsvolle Chef auftritt, nimmt ein Nesthäkchen die Rolle des verwöhnten Charmeurs ein, müssen Sandwichkinder zu auffälligen Maßnahmen greifen, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern, etwa indem sie ausscheren und provozieren.

Die aktuelle Forschung hält den Einfluss der Geschwisterposition auf die Entwicklung der Persönlichkeit zwar für etwas überschätzt, aber die Geschwister spielen natürlich eine große Rolle, denn Kinder lernen in einer solchen Familie den Umgang mit knappen Ressourcen, also etwa die Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern zu teilen. Studien haben auch gezeigt, dass Geschwisterkinder kooperativer sind, was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass Einzelkinder nicht kompromissbereit sein können, denn sie suchen sich dann eben außerhalb der Familie verstärkt soziale Kontakte, worauf Eltern von Einzelkindern achten sollten. Nach einer Umfrage in der BRD sind 74 Prozent der Menschen überzeugt, sich in Notlagen und persönlichen Krisen voll und ganz auf ihre Geschwister verlassen zu können (vgl. Braun, 2011). Nach den Untersuchungen von Rohrer et al. (2016) hat die Geschwisterposition auch nur sehr geringen Einfluss auf die Persönlichkeit, d. h., welche Persönlichkeit Menschen als Erwachsene auszeichnet, hängt kaum damit zusammen, wo diese in der Geburtenreihenfolge zwischen ihren Geschwistern standen. Man analysierte dazu Daten von Erwachsenen aus Deutschland, den USA und Großbritannien. Dabei zeigte sich für alle drei Länder, dass die zentralen Persönlichkeitseigenschaften Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit nicht mit der Geschwisterposition in der Herkunftsfamilie zusammenhängen. Lediglich bei der Selbsteinschätzung der Intelligenz fanden sich minimale Unterschiede, denn Erstgeborene berichteten häufiger, über einen großen Wortschatz zu verfügen und abstrakte Ideen gut begreifen zu können. Dieses Ergebnis ist insofern realistisch, als damit der bekannte Effekt der Geschwisterposition auf die objektiv gemessene Intelligenz bestätigt wurde, den vom Erstgeborenen zum Letztgeborenen sinkt die durchschnittliche Intelligenz leicht ab. Dieser Effekt auf die Intelligenz lässt sich in großen Stichproben zuverlässig finden, allerdings sind diese Effekte so klein, dass es zweifelhaft ist, ob sie für den Lebensweg bedeutsam sind.

Man weiß, dass das Verhältnis zu den Brüdern und Schwestern die Art und Weise, wie man sich später im Beruf verhält, beeinflussen kann, denn bestimmte Verhaltensmuster übt man mit den Geschwistern schon in der Kindheit. Im Berufsleben ruft man später diese erlernten Verhaltensmuster dann wieder ab, etwa wenn man im Beruf mit anderen rivalisiert, denn das ist etwas, das man als Kind durch Geschwisterbeziehungen gelernt hat. Besonders bei Kindern, die mit einem oder mehreren gleichgeschlechtlichen Geschwistern aufwachsen, ist das Konkurrenzdenken oft besonders groß, wobei die Konkurrenz unter Brüdern meist härter ist als zwischen Bruder und Schwester. Aber auch bei Kindern mit geringem Altersunterschied, also von weniger als 18 Monaten, kann die Konkurrenz schon stark ausgeprägt sein. Sehr viele Kinder versuchen, sich durch Verschiedenheit gegen ihre Geschwister zu behaupten, d. h., sie suchen sich unbewusst eine Nische, die der Bruder oder die Schwester noch nicht besetzt. Fällt etwa der Erstgeborene vor allem durch Fleiß und gute Noten auf, dann versucht der Zweite vielleicht beim Sport zu glänzen. Haben sich Geschwister als Kinder unterstützt, wenn es Probleme mit den Eltern gab, dann haben sie dadurch Muster von Kooperation und Zusammenhalt erlernen können. Trifft derjenige dann später im Beruf auf einen KollegInnen oder Vorgesetzte, die an die eigenen Geschwister erinnern, können diese Verhaltensmuster abgerufen werden und eine gute Zusammenarbeit kann entstehen. Ob Kinder, die die ältesten Geschwisterkinder sind, später Führungskraft werden, hängt vom Einfluss der Eltern ab. Es gibt Erstgeborene, die bekommen von den Eltern schon früh die Verantwortung für kleinere Geschwisterkinder übertragen, und es gibt dann Erstgeborene, die es genießen, diese Verantwortung zu übernehmen. Wenn man also schon früh damit konfrontiert war, Geschwistern die Welt erklären zu können und für sie verantwortlich zu sein, der wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch später für eine Führungsposition interessieren.

Der in der aktuellen Laienpsychologie verbreitete Glaube, die Reihenfolge der Geburten forme den Charakter, geht auch auf Frank Sulloway - 1996 publizierte er "Born to Rebel" - "Der Rebell der Familie" - zurück, demzufolge Kinder in der Familie verschiedene Nischen besetzen: Erstgeborene sah Sulloway als perfektionistisch an, mittlere Kinder als sozial, Nesthäkchen hingegen als Rebellen. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Persönlichkeit erwachsener Geschwister eher nicht so sehr von der Reihenfolge ihrer Geburten bestimmt wird, denn wie emotional, extrovertiert oder gewissenhaft ein Mensch ist, ist weitgehend unabhängig von der Position als Erstgeborener, Sandwichkind oder Nesthäkchen. Allerdings wurden dabei nur die Eigenschaften Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit betrachtet und nicht das breite Spektrum anderer Persönlichkeitsmerkmale. 2019 haben Lejarraga et al. in einer Untersuchung festgestellt, dass die Geburtsreihenfolge keinen Einfluss auf die Risikobereitschaft im Erwachsenenalter hat. Das widerlegt das familiendynamische Modell des US-Psychologen Frank Sulloway, der davon ausging, dass Erstgeborene von Natur aus stärker und intellektuell besser entwickelt sind, auch da sie die volle Aufmerksamkeit der Eltern erfahren haben. Sie entwickeln seiner Theorie nach eher ein Verhalten, das darauf ausgelegt ist, diesen Status zu erhalten, und müssten alles dafür tun, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhaschen, wodurch sie eine größere Neigung zum Risiko entwickeln. Allerdings sind Unfälle in Haushalten mit mehreren Geschwistern auch deshalb wahrscheinlicher, weil jüngeren Kinder ihre älteren Brüder und Schwestern nachnahmen, und zwar noch bevor sie die dafür nötigen Fähigkeiten besitzen. In einer umfangreiche Untersuchung wurden Daten aus drei verschiedenen Ansätzen kombiniert: Selbsteinschätzungen, Verhaltensmesswerte sowie riskante Lebensentscheidungen. Weder in den Selbsteinschätzungen noch in den Messungen zur Risikobereitschaft fanden die Forscher einen Effekt der Geburtsreihenfolge darauf, wie risikofreudig die Teilnehmer als Erwachsene sind. Auch bei den Entdeckern und Revolutionären fand sich kein Einfluss des Geburtsranges.

Kleine Unterschiede gibt es hingegen bei der Intelligenz, denn Erstgeborene schneiden sowohl in IQ-Tests als auch bei der Selbsteinschätzung etwas besser ab als die jüngeren Geschwister, wobei sich dieser Effekt nur in sehr großen Stichproben finden lässt, wobei die Effekte meist so klein sind, dass es zweifelhaft sei, ob sie für den Lebensweg überhaupt bedeutsam sind.

Literatur

Braun , Maria (2011). Diese Liebe hat beste Chancen. Berliner Morgenpost vom Sonntag, 30. Januar 2011.

Krichmayr, K. (2019). Geschwister: Sie lieben und sie hassen sich.
WWW: https://www.derstandard.at/story/2000111949198/geschwister-sie-lieben-und-sie-hassen-sich (19-12-11)

Lejarraga, T., Frey, R., Schnitzlein, D. D. & Hertwig, R. (2019). No Effect of Birth Order on Adult Risk Taking.In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America.

Linnen, Ada (2021). Gewalttätige Eltern: Müssen wir wirklich alles verzeihen? Brigitte vom 29. Mai.

Mietzel, Gerd (2002). Wege in die Entwicklungspsychologie. Kindheit und Jugend. Weinheim: BeltzPVU.

Rohrer, J, M., Egloff, B, & Schmukle, S, C. (2016). Examining the effects of birth order on personality. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), 112, 14224–14229.

Schauerte, C. et al (2003). Familien mit Jugendlichen: Familiäre Unterstützungsbeziehungen und Familientypen. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 50, 129-142.

Schneewind, Klaus A. in „Oerter, R. & Montada, L.“ (2002). Entwicklungspsychologie. (S. 105-127). Weinheim: Beltz

Silbereisen, R. & Ahnert, L. (2002). Soziale Kognition Entwicklung von Sozialem Wissen und Verstehen. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 590-613). Weinheim: Beltz.

Watzlawik, M. & Clodius, S. (2007). Ich mag dich und du mich (nicht)? Die gegenseitige Beurteilung der Geschwisterbeziehung von Zwillingen und Nicht-Zwillingen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 39, 196-205.

Yang, J., Hou, X., Wei, D., Wang, K., , Li, Y. & Qiu, J. (2017). Only-child and non-only-child exhibit differences in creativity and agreeableness: evidence from behavioral and anatomical structural studies. Brain Imaging and Behavior, 11, 493–502.

https://www.fr.de/ratgeber/karriere/geschwister-einfluss-karriere-psychologie-geschwisterfolge-geschwisterrivalitaet-konkurrenz-90792123.html (21-06-08)



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