[werner.stangl]s arbeitsblätter 

Risikogruppen für Essstörungen*)

Quellen:

Gerlinghoff, M. & Backmund, H. (2000). Was sind Ess-Störungen. Ein kleines Handbuch zur Diagnose, Therapie und Vorbeugung. Weinheim: Beltz.

Gruber, Ursula (2006). Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Johannes Kepler Universität Linz: PPP der jku.

Karwautz, Andreas (2001). Konzepte der stationären Behandlung von Essstörungen im Jugendalter. Ein kritischer Überblick. Online: http://www.univie.at/neuropsychiatrie/
docs/anstationaertherapiena/2001.pdf (06-06-27 - nicht mehr aktiv)

Lamers, L. & Mann, R. (Hrsg.) (2004). Essstörungen. Arbeit mit Selbsthilfegruppen. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Utesch, T., Dreiskämper, D., Naul, R., & Geukes, K. (2018). Understanding physical (in-) activity, overweight, and obesity in childhood: Effects of congruence between physical self-concept and motor competence. Scientific Reports, 8, doi: 10.1038/s41598-018-24139-y.

Wenig selbstsichere Jugendliche sind während der Zeit des Erwachsenwerdens von einer Reihe an psychischen Störungen bedroht, welche an dieser Stelle aber zum Großteil unberücksichtigt bleiben sollen. Lediglich die Sozialphobie als enge Verwandte einer Ess-störung sei kurz erwähnt. Die Phobie (krankhafte Angst), in der Öffentlichkeit oder vor anderen aufzufallen, geht in vielen Fällen einer Essstörung, vor allem einer Bulimie, voraus. Selbstunsichere Mädchen versuchen in der Pubertät als Zeit der Orientierungslosigkeit und der Selbstzweifel, möglichst wenig negative Resonanz in ihrer Umwelt hervor zu rufen. In einer Gesellschaft, welche Übergewicht nicht mehr als Zeichen des Wohlstandes, der Gesund-heit oder Zufriedenheit gelten lässt, sondern in der die Diskriminierung und Stigmatisierung Übergewichtiger durch ein immer schlankeres Schönheitsideal vorherrscht, liegt ein starker Druck auf jungen Frauen. Diäten scheinen der optimale, wenn nicht der einzige Weg der Anpassung für sensible, wenig selbstbewusste Mädchen zu sein (vgl. Lamers & Mann 2000, S. 10f).

Im Zusammenhang  mit Essstörungen wird in der Literatur relativ einheitlich (vgl. Gerlinghoff & Backmund 2000) von Patientinnen gesprochen, weniger von männlichen Patienten. Dies ist ebenso das Resultat entwicklungspsychologischer Beobachtungen bezüglich des oben angesprochenen weiblichen Rollen- und Anspruchsbildes, wie die Konsequenz aktueller Statistiken zum Auftreten von Essstörungen in der Altersgruppe von 15-25 Jahren, welche das hauptsächliche Auftretensfeld von Störungen in der Nahrungs-aufnahme einrahmt. Über 90% der Betroffenen von Essstörungen sind weiblich, Magersucht taucht bei 0,5%, Bulimie bei 1% der Altersgruppe auf. Obwohl weibliche Jugendliche seltener große Mengen essen als ihre männlichen Artgenossen, schämen sich dafür aber um einiges mehr (vgl. Habermas 2002, S. 850ff). Magersucht bricht im Allgemeinen um das 14., Bulimie um das 18. Lebensjahr aus (vgl. Karwautz 2005, S. 14).

Generell gelten Kinder, deren Eltern ein abnormes Essverhalten aufweisen, als stark gefährdete Risikogruppe für die Entwicklung einer Essstörung, jedoch wirken auch einzelne Persönlichkeitsmerkmale Jugendlicher stark förderlich auf die Ausbildung ernährungs-technischer Probleme. Spätere Betroffene zeigen während ihrer jugendlichen Entwicklung eine geringere allgemeine Neugier sowie eine größerer Tendenz zur Schadensvermeidung.

Großes Beharrungsvermögen gilt bereits in der Kindheit als Risikofaktor, während  geringere Selbstlenkungsfähigkeiten, fehlende Kooperativität, größere Ängste und eine Neigung zur Depressivität erst während der Adoleszenz zum Vorschein treten. In jedem Fall aber können spätere Erkrankte keinen gesunden und stabilen Selbstwert aufbauen, sie neigen daher zum Perfektionismus, um die von ihnen empfundene Selbstwertlosigkeit durch übertriebene Leistung – sei es auf sozialem oder ökonomischem Gebiet -  auszugleichen (vgl. Karwautz 2005, S. 21ff). 

Auslöser

Ursachen für die Ausbildung einer Essstörung Jugendlicher sind in vielen Bereichen zu finden. Das bereits erwähnte familiäre Umfeld spielt während des Heranwachsens eine ebenso große Rolle wie der die Adoleszenten umgebende soziokulturelle Bereich und etwaige traumatische Erlebnisse wie Trennungssituationen oder sexueller Missbrauch während Kindheit oder Jugendzeit. Zahlreiche Erklärungsmodelle versuchen zu ergründen, warum sich diese Umstände in Entwicklungsstörungen niederschlagen, die sich konkret auf das Essver-halten auswirken. Zu erläutern sind in diesem Zusammenhang in erster Linie psychoanalytische Ansätze, welche in einer Veränderung der Körperlichkeit Essgestörter die Abwehr sexueller Wünsche oder das Klammern an die scheinbar heile Kindheit sehen, gepaart mit der Möglichkeit, noch länger als bei unauffälligem Erwachsenwerden möglich, in der elterlichen Fürsorge zu verbleiben (vgl. Karwautz 2005, S. 25f).

Weitere Erklärungsversuche setzen bei anderen familiären Aspekten an. Sie beschreiben kurz umrissen einen Kampf um Selbstbehauptung, das Streben des Jugendlichen nach Identität und Kontrolle bei möglicherweise herrschender Überbewertung des Familienzusammenhaltes, dem Verzicht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse bis hin zur Opferbereitschaft für die Familie zur Vermeidung oder Ablenken von Spannungen und Konflikten als sehr guten Nährboden für ernährungsgebundene psychische Krankheiten (vgl. Lamers & Mann 2000, S. 52f).

Meredith E. Young und Margo Wilson, (Department of Psychology, Neuroscience and Behaviour, McMaster University, Hamilton, Ontario, Kanada) haben bei 469 Männern und Frauen, die in 198 Gruppen in den Cafeterien ihrer Universität zu Tisch saßen, die Portionsgrößen beobachtet. Wäjhrend die Gruppengröße keinen Einfluss auf den Energiegehalt der Portionen hatte, sank der Wert bei Frauen allerdings schlagartig, sobald nur ein Mann in der Gruppe war, und mit jedem zusätzlichen Mann ging er weiter zurück. Bei den Essensportionen der Männer war es völlig gleichgültig, mit wem sie aßen. Offensichtlich hängt die Größe der Essensportionen auch von den beteiligten Tischgenossen ab, wobei Frauen bewusst oder unbewusst kleinere Portionen wählen, um attraktiver zu erscheinen.

Sportliche Aktivität und Selbsteinschätzung

Utesch et al. (2018) zeigen in einer Studie, dass Kinder umso mehr Sport betreiben, je genauer diese ihre Sportlichkeit einschätzten können. Im Kindesalter spielt daher die motorische Kompetenz und deren Selbstwahrnehmung bzw. physisches Selbstkonzept eine große Rolle und sind dabei der Schlüssel für die eigene körperliche Aktivität. Daher ist es wichtig, dass ein Kind einschätzen kann, ob es eher unsportlich, durchschnittlich oder eher sportlich ist, was vor allem bei Kindern aus Risikogewichtsgruppen besonders zentral ist, denn insbesondere bei unter- und übergewichtigen Kindern im Vergleich zu normalgewichtigen, hat die richtige Selbsteinschätzung einen positiven Effekt auf zukünftige physische Aktivität. Im Gegensatz zu bisherigen Erklärungen gilt damit nicht mehr nur das Prinzip‚ je mehr motorische Kompetenz desto besser, sondern je besser die motorische Selbstwahrnehmung, desto besser die Kompetenz. Dieses Ergebnis besagt auch, dass sich eine zu starke Selbstüberschätzung oder auch -unterschätzung der eigenen motorischen Kompetenz negativ auf die körperliche Aktivität beziehungsweise auf das zukünftige Sportbetreiben auswirken.

 

 

Sportsucht bei Essstörungen

Reichert M., Schlegel S., Jagau F., Timm I., Wieland L., Ebner-Priemer U.W., Hartmann A.& Zeeck A. (2019). Mood and Dysfunctional Cognitions Constitute Within-Subject Antecedents and Consequences of Exercise in Eating Disorders. Physotherapy and Psychosomatics, doi:10.1159/000504061. Übermäßiges, exzessives und zwanghaftes Sporttreiben ist auch schädlich für Menschen, die unter Essstörungen leiden. Reichert et al. (2019) haben anhand elektronischer Tagebücher psychologische Alltagsmechanismen aufgedeckt, die einem solchen pathologischen Sportbetreiben zugrunde liegen. Zwar ist unbestritten, dass Sport die Gesundheit fördert, doch wird Sport exzessiv und zwanghaft betrieben und im Extremfall zur Sportsucht, kann dies krank machen. Dieses ungesunde Sporttreiben ist nachweislich besonders ausgeprägt bei Menschen, die unter Essstörungen leiden. Mit der Methode des Ambulantes Assessment auf Smartphones wurde das menschliche Erleben und Verhalten im Alltag erfasst. Dieser Ansatz geht davon aus, dass man Menschen in ihrem natürlichen Lebensumfeld untersuchen muss, um deren Verhalten verstehen zu können. Dank der Technologie war es möglich, subjektive Selbstberichte bei auffälligen Bewegungsepisoden gezielt anzufordern und so eine hohe statistische Varianz der Daten zu generieren. Dabei wurde die körperliche Aktivität von Patientinnen mit Essstörungen und gesunden Kontrollprobandinnen per Accelerometer (Bewegungssensor) objektiv und kontinuierlich in deren Alltag über sieben Tage hinweg aufgezeichnet. Der Accelerometer war via Bluetooth mit einem Smartphone verbunden, eine installierte App löste beim Über- und Unterschreiten bestimmter Aktivitätsschwellen Tagebuchabfragen aus und die Testpersonen wurden zusätzlich aufgefordert, sowohl vor als auch nach dem Sporttreiben über ihre Befindlichkeit zu berichten.

Meist ging bei den Patientinnen mit Essstörungen dem Sporttreiben ein Stimmungsabfall voraus, was bei den gesunden Kontrollprobandinnen nicht der Fall war, vielmehr fühlten diese sich vor dem Sport besonders energiegeladen. Nach dem Sporttreiben waren die Patientinnen mit Essstörungen im Vergleich zu den gesunden Kontrollprobandinnen und relativ zu ihrer durchschnittlichen Stimmung besser gelaunt, fühlten sich entspannter, verspürten weniger Druck, schlank sein zu müssen, und waren mit ihrem Körper zufriedener. Dieser Effekt hielt aber nur für eine begrenzte Zeit an, je nach Probandin von circa einer Stunde bis zu drei Stunden.

Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Menschen mit Essstörungen den Sport dazu benutzen, um bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren, vermutlich auch mangels fehlender alternativer Strategien in solchen Momenten. Die positiven Effekte des Sporttreibens können dabei das ungesunde Sportbetreiben verstärken, den sich nach dem Sport befreit zu fühlen, führt zu erneutem Sport, was in einem Teufelskreis münden kann, in dem immer mehr Sport getrieben werden muss, um sich gut zu fühlen. Diese Erkenntnisse sollten in der Therapie von Essstörungen gezielt und dosiert eingesetzt werden, um die Stimmung und das Körpererleben essgestörter Menschen positiv zu beeinflussen. Von zentraler Bedeutung ist es jedoch, den Betroffenen alternative Handlungsstrategien zu vermitteln, um ungesundes, übermäßiges Sporttreiben zu verhindern.

Siehe auch

Quellen

Diese Arbeitsblätter entstammen teilweise der Studie von Ursula Gruber "Essstörungen an Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs. Wahrnehmung, Behandlung, Prävention".



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