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Die Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien*) 

Die Diskussion über Gewalt in den Medien taucht immer wieder dann in der Öffentlichkeit auf, wenn sich Gewaltdelikte Jugendlicher nach einer offensichtlichen Vorlage aus Videospielen, Filmen oder aus dem Fernsehen ereignen. Die einen sehen dann die Medien als Gefahr an, welche die Kultur zerstöre und eine Bedrohung für die Menschheit darstelle, die anderen bestreiten diese Befürchtungen und sehen keine gefährlichen Auswirkungen auf die Menschen. Schon im antiken Griechenland wurde darüber nachgedacht, ob Märchenerzähler den Kindern durch Geschichten über Greueltaten falsche Gedanken zuführten, die diese eigentlich nicht haben sollten. Deshalb sollten "nur die guten Märchen (...) eingeführt werden" und "die Dichter von Märchen und Sagen beaufsichtigt werden" (Kunczik, 1998, S. 20). Die Auswirkungen von Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" auf die damalige Jugend oder die Folgen von Schundliteratur werden ebenfalls häufig als Beispiel für Medienwirkung angeführt (s.u. der "Werther-Effekt"). Eine neuere Untersuchung der Universität Würzburg und einer amerikanischen Universität belegt, dass in einem Land in der Regel nach einem Zeitraum von zehn Tagen nach einem Amoklauf ein weiterer stattfindet, er also eine Initialzündung für den nächsten Amoklauf darstellt. Vor allem Jugendliche beginnen, über diese Methode, sich an MitschülerInnen und LehrerInnen zu rächen, nachzudenken, und sagen sich dann, das könnte man eigentlich auch tun. Ein Amoklauf an einer Schule im eigenen Land steigert nach Jens Hoffmann (TU Darmstadt) das Risiko enorm, dass andere Jugendliche sich darauf beziehen und sagen, ich möchte auch unsterblich berühmt werden durch eine solche Tat.

Insgesamt weiß man zwar über den Zusammenhang zwischen Massenkommunikation und Gesellschaft, über die Wirkungsgesetze der Medien, zu wenig und es ist sicher richtig, dass die vorliegenden Forschungsarbeiten disparat sind, jedoch gibt es "oft … zu einem bestimmten Problem nur eine einzige Studie. Anschlußuntersuchungen, Replikationen oder Falsifikationsversuche seien die Ausnahme. Dadurch entstehe der Eindruck von bruchstückhaften, zerstückelten Befunden, zwischen denen kein Zusammenhang bestehe, die einander sogar widersprechen würden. Bei einer solchen Datenlage sei an eine theoretische Integration der vielen Einzelergebnisse nicht zu denken. Die Forderung nach der einen Theorie der Medienwirkung sei nicht erfüllbar, weil die Medien und ihre Inhalte viel zu verschieden wären. Auch seien die Randbedingungen, unter denen die Medien wirkten, viel zu komplex, als dass es möglich wäre, sie in einem konsistenten Satz von Hypothesen zusammenzufassen. Von der Kommission werden deshalb Bemühungen um Wirkungstheorien geringer oder mittlerer Reichweite gefordert; angemahnt werden in diesem Kontext auch Theorien zur Wirkung von Gewaltdarstellungen" (Kunczik & Zipfel o.J.).

Zynisch hingegen mutet ein Kommentar des Bundesverbandes Interaktiver Unterhaltungssoftware anlässlich eines Schulamoklaufes in der BRD an: "Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und der Tat in Winnenden ist nach derzeitigen Informationen nicht erkennbar. Die Tatsache, dass der Täter im Besitz von Computerspielen war, ist nicht weiter verwunderlich, da Games inzwischen ein 'fester Bestandteil der Jugendkultur' sind". Hier werden die Zusammenhänge aus kommerziellen Interessen schlicht verdrängt.

Gewaltbegriff

Bei der Diskussion wird häufig der im wissenschaftlichen Bereich neutrale Begriff der Aggression mit Gewalt und vor allem zerstörerischer Gewalt gleichgesetzt. Nach Rogge (1999, S. 142f) wird auf diese Weise die produktive und konstruktive Kraft von Aggression abgewertet. Denn Aggression bedeute im ursprünglichen Sinn bzw. ihrer lateinischen Wurzel nach so etwas wie einen Beginn oder einen Zugang zu etwas oder jemandem; deshalb sei ein Leben ohne Aggression unmöglich, wenn Werte wie Eigenständigkeit und Selbstbewußtsein umgesetzt werden sollen.

Kunczik unterscheidet beim Begriff "Gewalt" zwischen direkter, personaler Gewalt und struktureller, indirekter Gewalt. Demnach handelt es sich bei struktureller Gewalt um die in ein soziales System "eingeflochtene" Gewalt, um eine Art "Ungerechtigkeit". Sie tritt, ohne dass sichtbar eine ausführende Person vorhanden ist und "ohne dass sich das Opfer der strukturellen Gewalt dieser Vergewaltigung bewußt sein muß, in ungleichen Machtverhältnissen" (Kunczik 1998, S. 16) auf. Die Problematik struktureller Gewalt ist jedoch aufgrund der großen Probleme, die mit ihrer Operationalisierung verbunden sind, in der Debatte zur Wirkung von medialen Gewaltdarstellungen weitgehend unbeachtet geblieben (vgl. Kunczik 1998, S. 16 f.). Unter personaler Gewalt wird demgegenüber die beabsichtigte körperliche und/oder psychische Schädigung eines Individuums, eines Lebwesens oder eines Gegenstandes durch eine andere Person verstanden (vgl. Kunczik 1998, S. 15).

Nach Kepplinger & Dahlem muß man des weiteren zwischen "natürlicher" und "künstlicher" sowie zwischen "realer" und "fiktiver" Gewalt differenzieren. Die Darstellung realer Gewalt beinhaltet dabei das Zeigen von Verhaltensweisen, die physische und psychische Schädigungen tatsächlich beabsichtigen oder bewirken (z.B. im Reality-TV). Bei der Präsentation fiktiver Gewalt werden dagegen Verhaltensweisen gezeigt, welche eine physische oder psychische Schädigung nur vorgeben. Unter natürlicher Gewalt versteht man die lebensechte Darstellung eines Gewaltaktes, wie z.B. im TV-Krimi. Von künstlicher Gewalt spricht man letztendlich im Zusammenhang mit "unechten" Gewaltdarstellungen, wie sie z.B. in Zeichentrickfilmen zu sehen sind. Um die Auswirkungen medialer Gewaltdarstellungen auf Personen zu erforschen, wurde in den bisher durchgeführten Untersuchungen (diesen Gewaltdefinitionen nach) zumeist der Typus natürlicher, fiktiver Gewalt benutzt (vgl. Kunczik 1998, S. 14).

Thesen zur Wirkung von Gewaltdarstellungen

Theunert (1996, S. 33) fasst das Dilemma der Gewaltwirkungsforschung mit der Aussage zusammen, dass gewalttätige Darstellungen in den Medien anscheinend in drei Richtungen wirken: "Einmal sollen (...) [sie] wirken, indem sie dem Zuschauer die Abreaktion seines aggressiven Triebpotentials ermöglichen (...); dann wieder sollen sie gegenteilig wirken, indem sie dem Zuschauer Lernmodelle für aggressives Verhalten anbieten und somit zu einer Steigerung realer Gewalttätigkeiten beitragen; und schließlich sollen sie gar nicht wirken, sondern bedeutungslos für Ausmaß und Ausprägung realer Gewalttätigkeit sein. Eins ist jeweils mit dem anderen unvereinbar".

Kunczik (1995, S. 47) meint, dass Fernsehgewalt eine direkte negative Wirkung nur bei bestimmte Individuen und Problemgruppen erziele, aber auch hier nur im Zusammenwirken mit anderen zusätzlichen Problemen wie z.B. niedrigem Selbstbewußtsein, sozialer Isolation u.s.w..

Rathmayr (1996, S. 156) spricht davon, dass durch Mediengewalt zwar keine direkte Gewalt, aber zumindest ein Abstumpfungseffekt bei den Zuschauern hervorgerufen wird: Moderne Publikumsmedien "sind nicht nur drauf und dran, die Wirklichkeitserfahrungen der Menschen durch ihre Ersatzwirklichkeiten zu verdrängen, sondern diese Ersatzwirklichkeiten gleichzeitig so zu veralltäglichen, dass sie als längst Bekanntes, Gewohntes, eben Alltägliches erscheinen, selbst wenn es sich um die spektakulärsten Schreckensbilder handelt". Bei Gewaltspielen wird geschossen, geschossen, geschossen, und es wird auch auf den Spieler selber geschossen, aber es hat keine Konsequenzen, denn er ist tot und drückt auf den Reset-Knopf und es fängt wieder von vorne an.

Rogge (1999, S. 144 ff) fordert, dass alle existierenden Wirkungstheorien daraufhin überprüft werden müßten, inwieweit sie die soziale Umgebung, die Altersstufe und die jeweils akute Mediennutzungssituation der Rezipienten mitberücksichtigen. Erst danach könne man die jeweilige Theorie in Bezug auf ihre Brauchbarkeit beurteilen. Einflüsse medialer Gewalt ergeben sich niemals automatisch. Zentral für eine Folgeabschätzung medialer Gewaltdarstellung sind jene Erfahrungen, die Kinder mit erzieherischer Gewalt und Zurichtung im Elternhaus machen. Als Beispiele führt er Aussagen von Kindern an, die offensichtlich "harmlose" Fernsehsendungen wie "Lindenstraße", "Tagesschau" und Tiersendungen aufgrund der Darstellung von z.B. Familienstreit oder Walsterben als ",brutal" und als furchteinflößend empfinden. Allerdings tauche Streit unter Eltern (Beispiel "Lindenstraße") in den meisten Studien nicht als Kriterium für Gewalt auf. Als Gewalt und Aggression wird jene Symbolik bedeutsam, die der Rezipient aufgrund seiner biographischen wie aktuell geprägten Sozialisationsbedingungen als Gewalt wahrnimmt.

Theunert (1996, S. 40) meint aufgrund ihrer Metanalysen, dass sich mit den Ergebnissen der Mediengewaltforschung keine zwangsläufige Gewaltbereitschaft unter Kindern erkennen läßt. Dabei bezieht sie sich vorzugsweise auf die schon erwähnten Lernexperimente Banduras, welche sie in folgenden Punkten kritisiert: Erstens seien Banduras Befunde nicht auf die alltägliche Fernsehrezeption von Kindern übertragbar, da sie in einer künstlich geschaffenen und realitätsfernen Umgebung gewonnen wurden. Zweitens seien Befunde, die in Experimenten mit Kleinkindern gewonnen würden, nicht auf andere Altersgruppen übertragbar, und drittens hätten die Befunde keine Aussagekraft über das Verhalten der Kinder in der Realität, da z.B. ,"die Bobo-Puppe ein denkbar ungeeignetes Äquivalent für reale Gewalttätigkeit" darstelle. Die bei Bandura angeführten Argumente seien kaum geeignet, die Stimulationswirkung medialer Gewaltdarstellungen zu belegen.

Netflix- statt Werther-Effekt?

Nach der Ausstrahlung der Netflix-Serie „13 Reasons Why“ ist Studien zufolge die Zahl der Suizide unter Jugendlichen in den USA gestiegen, und zwar fand man 58 mehr Selbstmordfälle bei 10- bis 17-Jährigen im Monat April, als auf Grund des Trends in den Monaten davor erwartet worden wäre. Die Studie untersuchte dabei mit verschiedenen Methoden das Selbstmordverhalten in der Fünfjahresperiode ab Januar 2013, wobei die Selbstmordrate vor der Veröffentlichung mit der erwarteten Entwicklung aufgrund historischer und anderer Trends verglichen wurde. Der Untersuchung zufolge gab es in den neun Monaten nach Beginn der Serie 195 zusätzliche Suizidfälle in der Altersgruppe zwischen zehn und 17 Jahren, ein Anstieg von fast 29 Prozent, wobei dabei vor allem männliche Jugendliche betroffen waren. Vor allem im ersten Monat, nachdem die Serie angelaufen war, gab es einen signifikanten Anstieg, wobei auch die Zahl der Internetrecherchen zum Thema Suizid um 19 Prozent gestiegen war. In der Serie geht es um eine Schülerin, die sich das Leben nimmt, wobei Netflix dabei den Suizid der Hauptfigur besonders dramatisch inszeniert hatte und die für Medien geltenden Leitlinien zur angemessenen Darstellung dieses Themas nach Meinung von Experten missachtet hatte. Solche eine Darstellung kann für Menschen traumatisch sein, die bereits einen Suizidversuch hinter sich haben bzw. zeigt in manchen Fällen direkt den Weg zum Suizid (Bridge et al., 2019).

Literatur

Belson, W. A. (1978). Television violence and the adolescent boy. Westmead.

Bridge, Jeffrey A., Greenhouse, Joel B., Ruch, Donna, Stevens, Jack, Ackerman, John, Sheftall, Arielle H., Horowitz, Lisa M., Kelleher, Kelly J. & Campo, John V. (2019). Association Between the Release of Netflix’s 13 Reasons Why and Suicide Rates in the United States: An Interrupted Times Series Analysis. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, doi: 10.1016/j.jaac.2019.04.020.
Campo, John V. & Bridge, Jeffrey A. (2018). Exploring the Impact of 13 Reasons Why: Looking for Light Amidst the Heat. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 57, 547-549.
Etzersdorfer E., Sonneck G. & Voracek M. (2001). A dose-response relationship of imitational suicides with newspaper distribution. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry.
Sonneck G. (2000). Krisenintervention und Suizidverhütung. Wien:UTB Facultas.
Ziegler W. & Hegerl U. (2002). Der Werther Effekt. Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen. Nervenarzt, 73, 41-49.

Kleiter, E. F. (1997). Film und Aggression - Aggressionspsychologie. Theorie und empirische Ergebnisse mit einem Beitrag zur Allgemeinen Aggressionspsychologie. Weinheim.

Phillips, D. P. (1974). The influences of suggestion on suicide: substantive and theoretical implications of the Werther effect. American Sociological Review 39.

Phillips, D. P. (1982). The impact off fictional television stories on U. S. adult fatalities: New evidence on the effect of the mass media on violence. American Journal of Sociology, 87.

 


Siehe auch Methoden der Wirkungsforschung von Gewalt in den Medien und Computerspiele machen aggressiv

 


Weitere Literatur zu Aggression in den Medien

Ammitzboell, Johanne Margrethe (1987). Macht Fernsehen aggressiv? Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich.

Black, S. L. & Bevan, S. (1992). At the movies with Buss and Durkee: a natural experiment on film violence. Aggressive Behavior, 20, S. 37-45.

Groebel, Jo & Gleich, Uli (1993). Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms. Opladen: Leske und Budrich.

Henningsen, Dagmar & Stohmeier, Astrid (1985). Gewaltdarstellungen auf Video-Cassetten. Bochum: Studienverlag

Kuczik, Michael (1995). Wirkungen von Gewaltdarstellungen - Zum aktuellen Stand der Diskussion.

Kunczik, Michael (1998). Gewalt und Medien. Köln: Böhlau.

Kunczik, Michael & Zipfel, Astrid (o.J.). Wirkungen von Gewaltdarstellungen.
WWW: http://www.medienpaedagogik-online.de/mf/4/00677/ (05-11-21)

Liebert, R. N. &Baron, R. A. (1972). Some immediate effects of televised violence on children's behavior. Developmental Psychology, 6, S. 469-478.

Mummendey, Amelie (1996). Aggressives Verhalten. In W. Stroebe, M. Hewstone & G. M. Stevenson (Hrsg.), Sozialpsychologie. Eine Einführung (S. 421-452). Berlin: Springer.

Rogge, Jan-Uwe (1995). Die Faszination und Bedeutung medialer Gewalt aus der Sicht von Heranwachsenden. In Georg Kofler & Gerhard Graf (Hrsg.), Sündenbock Fernsehen?. Berlin: VISTAS Verlag.

Rogge, Jan-Uwe (1999). Kinder können Fernsehen. Reinbek: Rowohlt.

Selg, H. (1997). Gewalt in den Medien &endash; Möglichkeiten von Eltern zur Vermeidung negativer Auswirkungen. Kindheit und Entwicklung, 6, 79-83.

Smith, S. L. & Donnerstein, R. (1998). Harmful effects of repeated exposure to media violence: Learning of aggression, emotional desensitization, and fear. In R.G. Geen & E. Donnerstein (Eds.), Human aggression. Theories, research, and implications for social policy (S. 164-202). San Diego, CA: Academic Press.

Theunert, Helga (1996). Gewalt in den Medien - Gewalt in der Realität. Opladen: KoPäd Verlag.

Weiß, R.H. (2000). Gewalt, Medien und Aggressivität bei Schülern. Göttingen. Hogrefe.


Entstanden unter Verwendung von

http://bidok.uibk.ac.at/texte/aggressionen-3.html (02-07-29)

http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/soi/12337.html (02-10-07)

https://www.stangl-taller.at/TESTEXPERIMENT/experimentbspaggression.html (01-07-07)

Kunczik, Michael & Zipfel, Astrid (o.J.). Wirkungen von Gewaltdarstellungen.
WWW: http://www.medienpaedagogik-online.de/mf/4/00677/ (05-11-21)



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