SIEB.10/Prosa

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Über Möglichkeiten und Wahrheiten

Ich sitze in der Badewanne, und mein Gesicht spiegelt sich in der Armatur. Das Wasser ist so heiß, daß sich meine Brille beschlüge, trüge ich sie. Natürlich sitze ich nicht in der Badewanne - denn wenn ich in der Badewanne säße, könnte ich nicht die Bildschirmlady meines screensavers beobachten, die jetzt auf dem Papierkorb sitzt.
Angenommen, ich säße in der Badewanne und die Bildschirmlady wäre keine Bildschirmlady sondern eine Badewannenlady, dann änderten sich die Geschichte und meine Perspektive mit ihr. So aber ist die Bildschirmlady von meinem Badewannensitzen hoffnungslos getrennt und ich kann nicht das erleben, was ich erleben könnte, säße ich in der Badewanne und die Bildschirmlady wäre nicht bloß auf dem Bildschirm und bliese Seifenblasen oder sonst was vor sich hin.
Fakt ist: ich sitze vor dem laptop und tippe die Möglichkeiten in das Textverarbeitungsprogramm statt in der Badewanne zu sitzen und die Möglichkeiten der Bildschirmlady zu nützen. Die Möglichkeiten, die ich hätte, wäre sie nicht eine Bildschirmlady sondern eine Badewannenlady. Ich verzichte auf die Möglichkeiten und untersuche die Spiegelungen in der Armatur, die bar jeder Illusion die verzerrte Wirklichkeit seitenverkehrt in mein Gehirn projizieren. Ich schließe die Augen und taste mich von einer Alternative zur anderen, während meine dahinfliegenden Gedanken die möglichen Richtungen vorgeben, die sich ergäben, säße ich eben nicht in der Badewanne mit der Spiegelung meiner Realität, einer Möglichkeit unter vielen.
In Wahrheit sitze ich in einem Gefängnis der Gedanken, die sich in den Seifenblasen auf der Wasseroberfläche des Badewassers spiegeln. Aber was ist die Wahrheit in einem Gedankengefängnis? Die Bildschirmlady bläst die Seifenblasen - oder sind es Kaugummiblasen? Die Bildschirmauflösung läßt keine Entscheidung zu - quer über den offenen Text der Textverarbeitung. Ich kann die Wahrheiten selber definieren, da ich die Wahl habe. Die Wahl zwischen Badewanne und Textverarbeitung. Habe ich eine Wahl? Sind nicht die Richtungen der Gedanken beliebig wie zahlreich, zahlreich wie die Blasen des Seifenschaums auf der Wasseroberfläche? Was wäre wenn?
Mein "Angenommen" ist nur ein subjektiver Minimalismus an Freiheit, eine Vorspiegelung von Alternativen, die alle in meiner empfundenen Wahllosigkeit münden. Freiheit, bzw. das Postulat von Freiheit ist nur eine Illusion wie die Pixel auf dem Bildschirm. Wahllosigkeit? Will ich denn überhaupt wählen? Habe ich einen Rest von Energie behalten, der mir die Kraft gäbe, zwischen Alternativen überhaupt zu unterscheiden. Sind nicht alle Alternativen die gleiche Fiktion, nur eine minimale Variation des Gleichen?
Projiziere ich die Alternativen in meine Gegenwart wie andere ihre Lebenslügen in die Vergangenheit einordnen, fein säuberlich eine schlüssige Chronologie zeichnend, die die Glaubwürdigkeit der eigenen Illusionen erhöhen soll? Zeichne ich eine Struktur von Wahrscheinlichkeiten in eine Landkarte von Atlantis, das von schemenhaften Chimären bewohnt wird?
Habe ich die Wahl, mich von den Konjunktiven zu lösen? Der Fiktion meiner Gegenwart, jener bloß möglichen hin- und hertanzenden Bilder, die sich in meinen Gedanken zu Realitäten formen wie die Projektionen der Lichtpunkte an den Fenstern meiner Bewußtheit? Wie die Tropfen an der Armatur der Badewanne, die eine meiner Realitäten widerspiegelt, perlen die Standpunkte an der glatten Oberfläche der Zeit ab und sammeln sich im Meer der Möglichkeiten in meiner Badewanne. Woran kann ich die eine Möglichkeit erkennen? Die einen festen Standpunkt verleiht, die mich aus der Uferlosigkeit der Alternativen erlöst.
Ich setze die vom Dampf beschlagene Brille auf, um klarer zu sehen.
 
 
 

 

SIEB.10 @ 4711 e-zine für literatur

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